Frankfurt (Oder) und Słubice: Wo die europäische Idee untergeht

Der Ärger über die Grenzkontrollen in der deutsch-polnischen Doppelstadt Frankfurt/Słubice hält sich in Grenzen

Vom Versprechen der Grenzenlosigkeit der Doppelstadt Frankfurt/Słubice ist inzwischen durch die Grenzanlagen nicht mehr viel übrig geblieben.
Vom Versprechen der Grenzenlosigkeit der Doppelstadt Frankfurt/Słubice ist inzwischen durch die Grenzanlagen nicht mehr viel übrig geblieben.

Nur die Oder trennt Frankfurt von seiner polnischen Schwester Słubice. Die Doppelstadt mit der Europa-Universität Viadrina wirbt für sich mit dem Motto »Ohne Grenzen. Brez granic«. Doch wer von einem Teil der doppelten Stadt in den anderen gelangen will, stellt schnell fest, dass das nicht mehr zutrifft. Auf beiden Seiten der Stadtbrücke, die Frankfurt und Słubice verbindet, sind Zelte aufgebaut. Deutsche Bundespolizist*innen und polnische Grenzschützer*innen in militaristischer Tarnfleck-Uniform stehen am Straßenrand und beobachten die vorbeifahrenden Autos.

Auf der deutschen Seite ist das Zelt groß genug, um ganze Reisebusse zur Kontrolle hereinzuwinken. Sechs Polizeitransporter stehen aufgereiht daneben, zwei weitere in unmittelbarer Umgebung an der Durchfahrtsstraße. Die meisten nach Frankfurt einfahrenden Autos dürfen ungestört passieren. Etwa jedes fünfte wird kurz angehalten, einige davon werden herausgezogen, müssen ins Zelt fahren und sich einer Fahrzeugdurchsuchung und Ausweiskontrolle unterziehen. Im Zelt sitzen bereits eine Frau mit kleinem Kind auf dem Arm und zwei Männer, die die Polizist*innen nicht nach Frankfurt durchgelassen haben. Ununterbrochen fährt ein Auto nach dem anderen über die Brücke nach Frankfurt – Stop and Go, die Kontrollen verlangsamen das Vorwärtskommen.

Auch die meisten Fußgänger*innen laufen ungehindert von Słubice nach Frankfurt und von Frankfurt nach Słubice über die Stadtbrücke. Eine schwarze Frau mit zwei vollgepackten Stoffbeuteln in den Händen wird kurz auf ihrem Weg nach Frankfurt von den Polizist*innen angehalten, darf dann weiter und erwischt noch ihren Bus an der nächsten Haltestelle. Zwei Männer werden ebenfalls angehalten, müssen ihre Ausweise vorzeigen und dürfen dann weitergehen. Sie schütteln verärgert den Kopf.

Ruba wird nicht angehalten. »Zu Fuß habe ich hier nie Probleme«, sagt sie zu »nd«, während sie über die Brücke nach Frankfurt geht. Sie ist Studentin und muss täglich zwischen Frankfurt und Słubice hin und her. Sie habe aber von einigen männlichen Kommilitonen erzählt bekommen, dass sie ständig angehalten würden. Doch obwohl Ruba sich glücklich schätzt, nicht angehalten zu werden, kosten sie die Grenzkontrollen Zeit und Nerven, wenn sie den Linienbus über die Brücke nimmt. »Dann werden alle kontrolliert, und das auch noch zweimal, erst auf der einen Seite der Brücke, dann auf der anderen.«

»Ich weiß von einigen Studierenden, dass sie gar nicht mehr nach Słubice gehen, weil sie nicht immer angehalten werden wollen«, sagt Theologe René Pachmann zu »nd«. Er ist als Hochschulseelsorger im katholischen Pfarramt in der Franz-Mehring-Straße anzutreffen – einen guten Kilometer von der unter Überwachung stehenden Stadtbrücke entfernt. Pachmann setzt sich zusammen mit einigen Studierenden in Frankfurt aktiv gegen die Grenzkontrollen ein. Die Viadrina sei eine international geprägte Universität und führe auch Veranstaltungen in Słubice durch. Doch viele schwarze Studierende und Studierende of Color, die von den Grenzschützer*innen regelmäßig kontrolliert werden, mieden solche Veranstaltungen inzwischen. »›Ohne Grenzen‹ – das ist nur noch Hohn«, so Pachmann.

Es sei eine überschaubare Anzahl an Menschen, die sich vor Ort aktiv gegen die Grenzkontrollen einsetzen, sagt er. »Leider.« Viele Einwohner*innen nähmen Staus und Grenzanlagen in Kauf, weil sie sich von der Notwendigkeit der Kontrollen haben überzeugen lassen. »Die Stimmung in der Stadt ist geteilt. Ich hätte mehr Ärger erwartet«, sagt Pachmann. Schließlich habe es teilweise selbst der Rettungswagen schwer, in Słubice zum Krankenhaus zu kommen, wenn es sich dort von den Grenzposten her in die Stadt staut. Und unter den Frankfurt-Słubicern seien viele, die auf der einen Seite der Oder wohnten und auf der anderen arbeiteten.

Auch von den rassistischen Kontrollen direkt Betroffene würden sich lieber nicht öffentlich beschweren, auch aus Angst um ihre Aufenthaltsrechte, sagt Pachmann. »Die Studierenden sind sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, über Rassismus-Erfahrungen zu sprechen.« Zugleich sei die Präsenz der Bundespolizei nicht nur am Grenzübergang, sondern in der ganzen Stadt spürbar. Morgens patrouilliere sie am Flussufer, erzählt Pachmann. Viele Beamte seien in Frankfurter Hotels untergebracht.

Das alles schmerzt in Frankfurt und Słubice nicht nur antirassistisch Engagierte, sondern auch die Verfechter des europäischen Miteinanders ohne Grenzen. Unter ihnen Kommunalpolitiker*innen der Doppelstadt bis hin zur CDU. »Die europäische Idee wird hier kaputt gemacht«, sagt Pachmann. Und das nicht erst seit Amtsantritt der neuen Bundesregierung. »Die stationären Kontrollen gab es auch schon unter Faeser.«

Die europäische Idee – für viele bedeutet sie innereuropäische Freizügigkeit und Wirtschaft, nicht aber den Schutz des Asylrechts, beklagt Tabea Wittneben-Fidan. Sie ist sachkundige Einwohnerin für die Linke-Fraktion in einem gemeinsamen Ausschuss der Stadtverordneten von Słubice und Frankfurt. Zwar beschäftigen die Politiker*innen die Beeinträchtigung des Lebens in der Doppelstadt durch die Grenzkontrollen. »Aber nicht: Hier wird das Recht auf Asyl gebrochen«, sagt sie »nd«.

Wittneben-Fidan fehlt eine politische Auseinandersetzung der Stadtverordneten mit dem Schicksal derjenigen Menschen, die an der Grenze in die eine oder andere Richtung zurückgewiesen werden. »Das ist ja auch eine Ausnahmesituation für die Kommunen, solche Zurückweisungen an den europäischen Binnengrenzen gab es ja vorher nicht.« Doch in dem gemeinsamen Ausschuss der Doppelstadt habe sich die Mehrheit aus CDU und AfD nicht mit einer entsprechenden Anfrage beschäftigen wollen, die Wittneben-Fidan an die Stadtverwaltungen gestellt hat. Die Begründung: Das liege nicht in kommunaler, sondern in Landes- und Bundeszuständigkeit. »Die Antworten der Stadtverwaltungen sind in meinen Augen unzureichend. Auch auf kommunaler Ebene muss man politische Verantwortung für Menschen in Not übernehmen«, sagt Wittneben-Fidan.

Eine solche Verantwortungsübernahme wünscht sich Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von Pro Asyl, auch von den Bundespolizist*innen, die die Grenzkontrollen durchführen. Seit Amtsantritt der neuen Bundesregierung beobachte er eine »Intensivierung von auch vorher schon bestehenden rechtswidrigen Praxen an der Grenze«, sagt er zu »nd«. Das seien sowohl das Racial Profiling während der Kontrollen als auch die Zurückweisungen von Menschen, die ein Asylgesuch äußern.

Das Racial Profiling habe Alaows selbst erlebt und beobachtet, als er mit einer Delegation nach Frankfurt gefahren ist, um sich ein Bild von den Kontrollen zu machen. »Abhängig vom äußeren Erscheinungsbild der Menschen, die im Auto oder im Zug sitzen, wird kontrolliert oder nicht kontrolliert«, sagt Alaows.

»›Ohne Grenzen‹ – das ist nur noch Hohn.«

René Pachmann
Hochschulseelsorger in Frankfurt/Oder

Dass die Zurückweisungen trotz Äußerung eines Asylgesuchs rechtswidrig sind, hätten inzwischen drei Gerichtsurteile aus Berlin bestätigt – und dennoch sei es weiterhin die Praxis an der Grenze, sagt Alaows. »Aber die Bundespolizisten dürfen sich ihren Vorgesetzten widersetzen, wenn sie angewiesen werden, rechtswidrig zu handeln.« Auch die Bundespolitiker*innen müssten dringend eine andere Richtung einschlagen. »Das ist Rechtsbruch mit Ansage von der Politik.«

Die Grenzkontrollen selbst hält Alaows für reine Symbolpolitik. »Die aktuellen politischen Entscheidungen führen nicht dazu, dass weniger Menschen fliehen, aber dazu, dass sie auf der Flucht mehr leiden«, sagt Alaows. Politiker*innen machten sich dadurch schuldig, dass sie in der Gesellschaft Angst schürten – und das sogar angesichts sinkender Ankunftszahlen in Deutschland.

Nun gelte es, als Zivilgesellschaft solidarisch miteinander zu sein – nicht nur mit Geflüchteten, sondern mit allen, die von der aktuellen Bundespolitik nachteilig betroffen seien, sagt Alaows. Das werde aber zunehmend schwierig. »Ich sehe eine krasse Ermüdung angesichts der sich überschlagenden Ereignisse. Jeden Tag gibt es eine schlechte Nachricht – wenn es nicht eine Verschlechterung von Gesetzen ist, dann ist es eine neue unsägliche Äußerung wie jüngst mit dem ›Stadtbild‹.« Es sei zermürbend, immer wieder diesen Entwicklungen hinterherzulaufen. Und dennoch gehen Menschen weiter auf die Straße und lassen die Betroffenen mit den Entscheidungen nicht allein. »Es gibt keinen anderen Weg. Ich will mir nicht ausmalen, wo wir in zwei Jahren sind, wenn alles ohne Widerspruch hingenommen wird.«

Auch René Pachmann will nicht aufhören, gegen die Grenzkontrollen in Frankfurt und Słubice anzukämpfen. Zwar seien die Ressourcen begrenzt, aber die Aktiven wollen trotzdem weiterhin kleine Demonstrationen veranstalten und soziale und kulturelle Veranstaltungen durchführen. »Wir bleiben dran. Und wir setzen uns für die Geflüchteten ein, die hier sind.«

Auf eine Anfrage von »nd« bezüglich der Kriterien zur Auswahl von zu kontrollierenden Fahrzeugen und Fußgänger*innen auf der Stadtbrücke antwortete die Bundespolizei bis Redaktionsschluss nicht. Im Beobachtungszeitraum des »nd« auf der Stadtbrücke wurden auch Fahrzeuge mit weißen Insassen kontrolliert. Die anwesenden Polizist*innen wussten um die Medienpräsenz. Unter den Fußgänger*innen wurden keine von »nd« als weiß gelesenen Menschen kontrolliert.

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