Anders leben - ob das gelingen könnte?

Christa Wolf: »Sommerstück«

  • Horst Nalewski
  • Lesedauer: 4 Min.

Christa Wolf war im 60. Lebensjahr, als dieser Text erschien. Eine hochbedeutende Autorin, die eigentlich den Nobelpreis verdient hätte: für »Nachdenken über Christa T.« (1968), »Kindheitsmuster« (1976), »Kein Ort. Nirgends« (1978), »Kassandra« (1983), »Störfall« (1987). Das Wiederlesen macht den Ersteindruck um ein Vielfaches bedrängender. Was damals von der Erzählerin als Menschheitsbedrohendes »gesehen« wurde, ist heute Weltzustand: »Merkst du nicht, wie alles zum Zerreißen gespannt ist?«

Rückversetzt werden wir in den Sommer 1975, an den die Autorin einleitend zweifach erinnert mit den Widmungen: »Allen Freunden jenes Sommers« und einer geheimnisvollen Strophe »Raubvogel« von Sarah Kirsch, die wohl auch diesen Sommer meint. Wen beim Lesen Neugier plagt, wer denn wer sei von diesen »Freunden«, und dann meint, die Autorin selbst zu entdecken, ihren Mann, ihre Töchter und Enkelin, sodann Sarah Kirsch, Maxi und Fred Wander, Helga Schubert u.a., wird korrigiert durch die Nachbemerkung Christa Wolfs. Alle Figuren in diesem Buch seien Erfindungen, keine sei identisch mit einer lebenden oder toten Person. So sollte man dieses Stück Sommer als einen Monolog lesen, im Für und Wider von scheinbar unterschiedlichen Stimmen, die letztlich alle nur diese eine Stimme meinen: die der Erzählerin.

Erinnerungen an jenen fast glückhaften Sommer 1975 in einem mecklenburgischen Dorf, niedergeschrieben 1982/83, inzwischen überdeckt von Jahren, da der Erzählerin »Selbstvertrauen ..., das Ferment, das zum Schreiben nötig war, ... ganz und gar genommen worden« war, »Hoffnung in Hoffnungslosigkeit« umgeschlagen, »Verrat als Grundverge-hen ... der Moral« benannt und das »Altern« ohne Larmoyanz immer wieder beschworen. Ein Wendepunkt - wohin? Da ist ein Ehepaar, Ellen und Jan, der Kultur in ihrem Lande zugewandt, das nun von der Vorstellung überfallen wird, »in den letzten ein, zwei Jahrzehnten einen großen Teil ihrer Zeit falsch angewendet« zu haben. Sie verlassen die Großstadt, finden ein Bauernhaus im Mecklenburgischen und sagen sich: »Ich glaube, wir müssten anders leben. Ganz anders.« Schon beim ersten Umblick auf Haus, Garten, Bäume, den hohen Himmel in wunderbarer Stille drängt sich der Erzählerin Vers für Vers, sodann die eine, die letzte Strophe jenes wundersamen Gedichts »TROST-ARIA« des Barock-Dichters Johann Christian Günther auf: »Endlich blüht die Aloe; / Endlich trägt der Palmbaum Früchte;/ Endlich schwindet Furcht und Weh; / Endlich wird der Schmerz zu nichte; / Endlich sieht man Freuden-Tal; / Endlich, Endlich kommt einmal.«

Anders leben. Es scheint, als ob das hier gelingen könnte. Auch wenn die Erzählerin ab und an das Gefühl überfällt, mit diesem »Rückzug in das Landleben« einer »Illusion«, gar einer »Mode« erlegen zu sein. Allein der Glücksmomente sind eingangs zu viele: eben jenes Haus, das bewohnbar gemacht werden muss; der in Natur versunkene Garten. Vor allem aber ist’s die Nähe der Töchter und der die Welt kindlich befragenden Enkelin. Und es sind die Freunde, die kommen, manche bleiben, und die Kontakte zu den wenigen, meist alten Dorfbewohnern. Alle freilich behaftet mit den »Problemen der ganzen Welt«. Das Innigst-Gewünschte wäre: »miteinander reden ... einen Vorrat an Gemeinsamkeiten anlegen ... (denn) ein Alleinsein würde kommen«. Also das gemeinsam bereitete Essen genießen, dazu Gutes trinken, Lieder singen, schließlich gar ein Theaterstück versuchen, frei nach Tschechow, mit dem Titel »Sommerstück«. Dennoch: Eine Idylle scheint niemals auf. Der Unterton dieses einzigartigen Textes, auf jeder Seite, ist fixiert in der Ahnung kommenden Unheils, eines alles verzehrenden Feuers.

Immer wieder bedrängen Träume die Erzählerin, in denen seltsame Vorhaben erstehen: »Man müsste ... eine Heilige Johanna schreiben; aber die Johanna dürfte nicht standhaft bleiben, sondern müsste widerru-fen ... Dann wird sie erst recht verbrannt. Sie ist ja in jedem Fall eine Verräterin. Im zweiten Falle an sich selbst.« In die Wirklichkeit zurückgekehrt, weiß die Erzählerin, dass sie eben das nicht sein kann: »Verräterin ... an sich selbst«.

In einem Gespräch nach »Sommerstück« hat Christa Wolf definiert, was sie erstrebte: »Die schwierige Balance zu finden, zwischen der Einsamkeit der Selbstauseinandersetzung und dem Lebenselixier der Kommunikation.« Ihr nachfolgendes Werk lebte von jenem »Lebenselixier«: »Was bleibt« (1990), »Auf dem Weg nach Tabou« (1994), »Medea. Stimmen« (1996), »Ein Tag im Jahr. 1960-2000«, »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud« (2010). - Ein unverwechselbar großes Werk.

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