»Austerität ist eine Sackgasse«

Alexis Tsipras über die Verhandlungen mit den Gläubigern, das Referendum und den finanziellen Staatsstreich

  • Lesedauer: 7 Min.

Lassen Sie uns über diese sechs Monate dauernden Verhandlungen sprechen. Wie würden Sie sie zusammenfassen?

Hinter uns liegen sechs Monate hoher Anspannungen und starker Emotionen, aber Selbstgeißelung hilft niemandem. Gefühle von Freude, Stolz, Dynamik, Entschlossenheit, aber auch von Traurigkeit sind aufgetreten. Ich denke aber, dass wir am Ende des Tages, wenn wir den Prozess objektiv zu betrachten versuchen, nur stolz darauf sein können, diesen Kampf geführt zu haben. Unter widrigen Bedingungen und bei einem schwierigen Kräftegleichgewicht sowohl innerhalb Europas als auch auf der Welt haben wir versucht, die Sicht eines Volkes und die Möglichkeit eines alternativen Weges zu behaupten. Wenn zuletzt die Mächtigen imstande waren, uns ihren Willen aufzuzwingen, bleibt dennoch auf der internationalen Ebene die absolute Klarheit darüber, dass die Austerität eine Sackgasse ist. Dieser Prozess hat in Europa eine gänzlich neue politische Landschaft geschaffen.

Was ist mit dem Mandat des Volkes, das SYRIZA erhalten hat? Die Memoranden wurden ja nicht in der Luft zerrissen. Im Gegenteil: Die Maßnahmen, die das Abkommen erfordert, sind besonders grausam.

Das Mandat, das wir vom griechischen Volk erhalten haben, war - unter welchen politischen Bedingungen auch immer -, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um Bedingungen zu schaffen, das Ausbluten des griechischen Volkes zu beenden.

Sie sagten, die Memoranden würden mit einem einzigen Gesetz annulliert werden.

Vor den Wahlen sagte ich nicht, dass die Memoranden mit einem einzigen Gesetz annulliert werden könnten. Niemand sagte das. Wir haben dem griechischen Volk niemals einen Spaziergang im Park versprochen. Das ist der Grund, warum es sich der Schwierigkeiten bewusst ist, auf die wir gestoßen sind und denen es selbst mit einem auffallend kühlen Kopf begegnet. (...) Wir verhandelten sechs Monate lang und konnten zur selben Zeit einen Großteil unseres Wahlprogramms umsetzen - sechs Monate lang, in denen wir ständig in Sorge waren, ob wir die Gehälter und Pensionen am Monatsende auszahlen und unseren Verpflichtungen gegenüber den Werktätigen im Land würden nachkommen können. Darin bestand unsere ständige Besorgnis. Und in diesem Zusammenhang gelang es uns, ein Gesetz zur humanitären Krise zu verabschieden. Tausenden unserer Mitbürger kommt dieses Gesetz gerade jetzt zugute. Es ist uns gelungen, schwerwiegende Ungerechtigkeiten zu beseitigen, wie z.B. jene, die den Putzfrauen vonseiten des Finanzministeriums widerfahren ist, aber auch den Schulwarten, den Angestellten des öffentlichen Radio- und Fernsehsenders ERT, die beide wieder eröffnet werden konnten. Während wir versuchen, die Situation nicht festfahren zu lassen, sollten wir sie auch nicht negativer darstellen als sie ist. (...)

Warum haben Sie beschlossen, ein Referendum abzuhalten?

Ich hatte keine andere Wahl. Sie müssen sich ansehen, womit ich und die griechische Regierung am 25. Juni konfrontiert wurden, das Abkommen, das sie uns vorgeschlagen haben. Ich muss zugeben, dass es eine sehr riskante Entscheidung war. Der Wille der griechischen Regierung widersprach ja nicht nur den Forderungen der Gläubiger, sondern auch jenen des internationalen Finanzsystems und ebenso jenen des politischen Systems und der Medien in Griechenland selbst. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir das Referendum verlieren würden, war umso höher als unsere europäischen Partner ihre Logik so weit trieben, dass die Banken schließen mussten. (...)

Das politische Hauptproblem der nordeuropäischen Regierungen bestand darin, dass sie um jeden Preis vermeiden wollten, vor ihre Parlamente zu treten und auch nur einem einzigen »zusätzlichen« Euro an Griechenland zuzustimmen. Sie sind Gefangene des populistischen Klimas, das sie selbst erzeugt hatten, indem sie ihre Bevölkerungen glauben machten, dass sie für die faulen Griechen zahlen würden. (...)

Diejenigen, die gesagt haben, »keinen einzigen Euro mehr«, haben letztendlich ihre Zustimmung nicht nur zu einem Euro, sondern zu 83 Milliarden gegeben. So sind wir von 10,6 Milliarden für fünf Monate auf 83 Milliarden Euro für drei Jahre gekommen, mit der zusätzlich wichtigen Zusage für einen Schuldennachlass, über den im November diskutiert werden soll. Das ist die Schlüsselfrage, die darüber entscheidet, ob Griechenland einen Weg beschreiten kann, der das Land aus der Krise führt. (...)

Das Nein des Referendums war ein Nein zur Austerität.

Die Frage des Referendums bestand aus zwei Teilen. Teil A betraf die früher von uns geforderten Maßnahmen und Teil B den Finanzierungsplan. Um ehrlich zu sein und nichts zu beschönigen: Das Abkommen, das auf das Referendum folgte, ist, sofern es Teil A betrifft, ähnlich dem, das das griechische Volk abgelehnt hat. Andererseits müssen wir auch, was Teil B betrifft, ehrlich sein und diesbezüglich besteht ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Zuvor hatten wir 10,6 Milliarden Euro für fünf Monate. Jetzt haben wir 83 Milliarden - was einer mittelfristigen Finanzierung entspricht, wobei 47 Milliarden Euro für die Rückzahlung ausländischer Schulden vorgesehen sind, 4,5 Milliarden für Rückstände des öffentlichen Sektors und 20 Milliarden für die Rekapitalisierung der Banken. (...) Das Referendum hat eine Funktion erfüllt. (...)

Haben Sie das Ergebnis von 61,2 Prozent Nein-Stimmen erwartet?

Ich gestehe, dass ich bis Mittwoch (vor dem Referendum, d. R.) den Eindruck hatte, dass das Ergebnis unentschieden sein würde. Am Donnerstag begann ich zu erkennen, dass das Nein gewinnen würde und am Freitag war ich davon überzeugt. Angesichts dieses Sieges kam das Versprechen, das ich dem griechischen Volk gegeben hatte, nicht mit einer humanitären Katastrophe zu spielen, zum Tragen. Ich habe nicht mit dem Überleben des Landes und seiner Bevölkerung gespielt.

Danach wurden in Brüssel mehrere Schreckensszenarien auf den Tisch gelegt. Ich wusste, würde ich während der 17 Stunden, in denen ich diesen Kampf führen musste - allein und unter schwierigen Bedingungen -, das tun, was mein Herz wollte, nämlich aufstehen, mit der Faust auf den Tisch schlagen und abreisen - würden die ausländischen Zweigstellen der griechischen Banken noch am selben Tag zusammenbrechen. (...)

Trotz alledem habe ich diesen Kampf geführt und versucht, Logik und Leidenschaft in Einklang zu bringen. Ich wusste, wenn ich aufstehen und gehen würde, müsste ich wiederkommen und wäre mit noch ungünstigeren Bedingungen konfrontiert worden. Ich stand also vor einem Dilemma. Die öffentliche Meinung auf der ganzen Welt verkündete »This Is A Coup«, es ging sogar so weit, dass dies in jener Nacht auf Twitter zum führenden Hashtag weltweit wurde. Auf der einen Seite stand die Logik; auf der anderen die politische Vernunft. Im Rückblick bleibe ich bei der Überzeugung, dass die richtige Entscheidung darin bestand, das Volk zu beschützen. Andererseits hätten die verschärften Vergeltungsakte das Land zerstört. Ich habe eine verantwortungsvolle Entscheidung getroffen.

Sie glauben nicht an das Abkommen und haben dennoch die Abgeordneten gebeten, dafür zu stimmen. Was haben Sie im Sinn?

Ich denke - und das habe ich auch dem Parlament gesagt -, dass das, was unsere europäischen Partner und Gläubiger errungen haben, ein Pyrrhus-Sieg ist, dass dieser aber gleichzeitig für Griechenland und seine Linksregierung einen großen moralischen Sieg darstellt. Es ist ein schmerzhafter Kompromiss, sowohl auf der wirtschaftlichen als auch auf der politischen Ebene. Sie wissen, Kompromisse sind Teil der politischen Realität und auch Teil der revolutionären Taktik. Lenin war der erste, der über den Kompromiss gesprochen hat und zwar in seinem Buch »Der ›Linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«, in dem er mehrere Seiten lang erklärt, dass Kompromisse Teil revolutionärer Taktik sind. In einer Passage erwähnt er das Beispiel eines Banditen, der seine Pistole gegen dich richtet und sagt: »Geld oder Leben?« Was tut ein Revolutionär in dieser Situation? Sein Leben hergeben? Nein, er muss das Geld hergeben, um sein Recht zu leben zu behaupten und den Kampf fortführen. Wir waren mit einem Dilemma unter Gewaltandrohung konfrontiert. Heute machen die Oppositionsparteien und die etablierten Medien viel Aufhebens, wobei sie sogar so weit gehen, dass sie strafrechtliche Schritte gegen Yanis Varoufakis fordern. Es ist uns völlig bewusst, dass wir in diesem politischen Kampf unseren Kopf riskieren. Aber wir führen ihn gemeinsam mit der überwiegenden Mehrheit der griechischen Bevölkerung an unserer Seite. Und das ist es, was uns Kraft verleiht.

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