Das globale Prekariat

Neues Buch über die Veränderung der Arbeitswelt

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.
Was genau ist eigentlich das Prekariat, von dem viele Linke reden? Der Arbeitsexperte Guy Standing versucht, eine Antwort zu geben.

In Zeiten von Krise, Spardiktaten und der angeblich alternativlosen neoliberalen Marktlogik wird der Teil der Beschäftigungsabhängigen mit sehr geringem Einkommen und unsicheren Arbeitsverhältnissen immer größer. Vor allem in Südeuropa wächst das Prekariat, wie diese Gruppe heute gängiger Weise bezeichnet wird. Wobei der Begriff oft schwammig verwendet wird: Ist damit die in Krisenzeiten absteigende Mittelschicht gemeint oder eine immer prekärer beschäftigte Unterschicht? Oder handelt es sich beim Prekariat, wie der Begriff eigentlich nahelegt, bereits um eine neue, weltweite Klasse von Arbeitern? Genau das sagt der britische Ökonomieprofessor Guy Standing in seinem kürzlich auch auf Deutsch erschienenen Buch »Prekariat - die neue explosive Klasse«. Das englische Original wurde wenige Wochen vor den massiven Ausschreitungen in zahlreichen britischen Städten im August 2011 publiziert und seither in mehr als zehn Sprachen übersetzt.

»Das Prekariat hat Klasseneigenschaften«, schreibt Standing. Der große Unterschied zur Schicht der Angestellten ist ihr »minimales Vertrauensverhältnis zu Kapital und Staat«. Unsicherheit ist einer der wesentlichen Faktoren für das Prekariat, das Ergebnis der jahrelangen radikalen Flexibilisierung der Arbeitsmärkte in Zeiten der Globalisierung ist. Die sozialen Sicherungssysteme, die Sozialdemokratie und Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg erkämpft haben, fehlen dem Prekariat. Schutz vor Kündigung, die Garantie eines stabilen Einkommens, aber auch Repräsentationsmöglichkeiten in Gewerkschaften gehen verloren. Anspruch auf staatliche Leistungen haben Mitglieder des Prekariats selten: »Individuelle Verträge, Prekarisierung und andere Formen der externen Flexibilität lassen sich zu einem weiteren vagen Begriff zusammenfassen: Tertiärisierung«, so der Arbeitsexperte, der darin mehr sieht als eine Erweiterung des dritten Sektors - nämlich ein System repressiver Kontrollmechanismen.

Standing schildert detailliert Arbeits- und Lebensbedingungen des Prekariats und bietet einen breiten Überblick zur Arbeitsmarktentwicklung weltweit. Auch wenn ein Hauptfokus auf Großbritannien liegt, berücksichtigt er ebenso Entwicklungen in den USA, Japan, Deutschland, China und Indien. Zudem werden die politischen Folgen der grundlegenden Verschlechterung arbeitsmarktpolitischer Rahmenbedingungen thematisiert. Denn rechtspopulistische und neofaschistische Kräfte nutzen erfolgreich diese Situation, wie die europäischen Wahlergebnisse der letzen Jahre zeigen. Migranten, die einen nicht unerheblichen Teil der neuen prekarisierten Klasse stellen, werden darüber hinaus immer öfter rassistisch diskriminiert.

Mit der Masse der Empfänger von Sozialleistungen unter Vorbehalt und dem Zwang zur Arbeit geht außerdem eine Beschränkung der Rechte einher, weshalb Standing von einer neuen, rasant wachsenden Klasse von »Unterbürgerinnen« spricht. Denn ins Prekariat abzurutschen, könne jedem passieren. Um gegen diese Entwicklung etwas zu unternehmen, schlägt er ein bedingungsloses Grundeinkommen vor. Das neoliberale System, so Standing, habe mit seiner Absicht, die Bevölkerungsmehrheit durch Konsum glücklich und die Minderheit durch Sanktionen gefügig zu machen, ein Ungleichgewicht geschaffen, das mit der derzeitigen Ausbreitung des prekarisierten Niedriglohnsektors nicht mehr funktioniert und eine »explosive Mischung« erzeugt.

Guy Standing: »Prekariat - die neue explosive Klasse«, Unrast-Verlag, Münster, 2015, 278 S., 18 €.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.