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Die Liebe wird für alle reichen

Serhij Zhadan lässt kaputte Menschen in Charkiw verzweifeln und hoffen

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.

Würde man die neun Erzählungen in Serhij Zhadans Band »Mesopotamien« lesen können, ohne um die Ereignisse zu wissen, die sich seit der Niederschrift in der Ukraine zugetragen haben, man würde den Handlungsort Charkiw für einen mystischen Flecken halten, dessen Bewohner trotz all ihres seelischen Elends von der schützenden Hand der Stadtheiligen vor Schlimmerem bewahrt werden.


Serhij Zhadan: Mesopotamien.
A. d. Ukrain. von Claudia Dathe, Juri Durkot und Sabine Stöhr.
Suhrkamp. 366 S., geb., 22,95 €.


Könnte man eintauchen in diese zärtlich-brutalen, perspektivlos-hoffnungssüchtigen postsozialistischen Lebensgeschichten, ohne um die Geschichte des Autors zu wissen, man würde in Zhadan einen ukrainischen Clemens Meyer erkennen - eine literarische Stimme der Wendegeneration, die dort den erzählenswertesten Stoff findet, wo andere sich gar nicht hinwagen: in Boxringen, Rotlichtvierteln, auf dunklen Hinterhöfen. Immer geht es um den Tod und die Liebe.

Nun aber, da die Maidanbewegung, in der Zhadan aktiv war, den Regierungswechsel erzwungen hat in der Ostukraine der Bürgerkrieg tobt, ist eine unbefangene Lektüre schwerlich möglich. Man kann nicht ausblenden, dass der Autor bei einer Straßenschlacht in Charkiw im März 2014 krankenhausreif geschlagen wurde. Immer wieder meldet sich Zhadan in deutschsprachigen Medien zu Wort. Wer seine Beiträge über einen längeren Zeitraum verfolgt hat, wird eine Verhärtung nicht übersehen. Hatte er im April 2014 in der »FAS« vom Konflikt in seiner Heimat noch als einem »unsichtbaren Krieg« geschrieben, »aus dem wir herausfinden müssen. Am besten zusammen. Am besten, ohne jemanden zurückzulassen oder aufzugeben«, so wird er im Juli 2015 im »Spiegel« mit dem wenig versöhnlichen Satz zitiert: »Wir werden siegen.« Und Anfang August ist in einem »taz«-Text über seine Weigerung, sich bei einem Literaturfestival in Deutschland gemeinsam mit einem russischen Schriftsteller aufs Podium zu setzen, Zhadans an die Veranstalter gerichteter Satz zu lesen: »Wieso kapieren sie nicht, dass hier nicht mal eine leise Spur von Verständigung möglich ist?«

Ohne, dass das Buch etwas dafür könnte, lese ich »Mesopotamien« also als poetischen Bericht einer Vorkriegszeit. Und komme nicht umhin, dabei an eine Passage aus dem Zeitungstext von 2014 zu denken: Wie es dazu gekommen ist, fragt Zhadan da, dass aus friedlichen Protesten ein Bürgerkrieg hatte werden können. »Was steckt dahinter? Ich glaube, Angst und Verunsicherung. Es ist die Angst, die dich aggressiv macht. Es ist die Verunsicherung, die dich dazu bewegt, in jemandem einen Feind zu sehen, dem du bisher Hunderte Male in der U-Bahn oder im Supermarkt begegnet bist.«

Diese Angst aber, diese Verunsicherung, ist in den »Mesopotamien«-Erzählungen omnipräsent. Überspielt zwar von Machogehabe, Unmengen von Alkohol und der ewigen Suche nach Sex, lavieren die Figuren durch eine verwahrloste Gesellschaft, in der alle aufeinander angewiesen wären, sich aber jeder selbst der Nächste ist. Vielleicht ist die Abwesenheit einer übergeordneten gesellschaftlichen Instanz der Grund dafür, dass Charkiw selbst hier als höheres Wesen erscheint, das Geborgenheit stiftet und Zusammenhalt schafft. Zhadan erzählt in seinen einander überschneidenden Geschichten immer auch von Fluchten, Auf- und Ausbrüchen, die aber stets zurück führen in den Schoß jener Stadt an den Flüssen. Deren babylonische Vielstimmigkeit ist so sinnlich eingefangen, dass man den georgischen Kognak förmlich riechen und die Stimmen der Heiligen hören kann: »Das Leben kennt nur zwei Wege«, raunen sie einmal: »Der eine führt ins Paradies, der andere in die Hölle. Doch sie kreuzen sich an vielen Stellen.«

Das Buch, das mit gedichteten »Erläuterungen und Verallgemeinerungen« schließt, von denen man sich vorstellen kann, wie Zhadan sie zur Musik seiner Punkrockband »Sobaky w kosmossi« (»Hunde im Weltall«) intoniert, führt oft ins Ahnungsvolle, Albtraumhafte. In einer dunklen Wohnung taucht ein Korridor auf, den es früher nicht gab. Gespenstische Hunde lechzen einem Einsamen in einem gottverlassenen Areal nach dem Leben. Und in jenem Porträt der Stadt, das eine Frau ihrem jüngeren Verehrer aufzeigt, zählen Hexen, Ertrunkene und Erhängte wie selbstverständlich zu deren Bewohnern. »Die Liebe wird für alle reichen«, sagt die Frau zum Schluss. »Diese letzte Wendung«, fügt der Ich-Erzähler noch an, »verstand ich nicht«.

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