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Nichts aus Évian gelernt

  • Dinah Riese
  • Lesedauer: 3 Min.
1938 scheiterte Europa schon einmal kläglich in der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen.

Menschen fliehen vor politischer Verfolgung. Doch sie stehen vor geschlossenen Grenzen. Von einem »Flüchtlingsproblem« ist die Rede. Auf einer eigens einberufenen Konferenz diskutieren Staatenvertreter darüber. Man ist sich einig, dass etwas getan werden muss. Aber die eigenen Kapazitäten seien erschöpft.

Auch wenn es so klingen mag: Es ist nicht das Jahr 2015 und die Delegierten diskutieren nicht in Brüssel. »Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung«, schreibt eine Beobachterin Jahre danach. Bei der Frau handelt es sich um Golda Meir, die später Ministerpräsidentin des jungen Staates Israel werden sollte. Sie war anwesend, als im Jahre 1938 im französischen Évian die internationale Gemeinschaft über das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge diskutierte - und blamabel scheiterte.

Die Konferenz fand auf Initiative des US-amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt statt. Befürchtete man damals, die Aufnahme der aus Deutschland und Österreich geflohenen Juden könnte den Antisemitismus im eigenen Land anfeuern, so führt man heute »besorgte Bürger« an, die Angst vor einer »Islamisierung« der Gesellschaft haben. Wie derzeit beschlossen 1938 mehrere Länder, Einwanderungsbestimmungen und Grenzkontrollen eher noch zu verschärfen, statt sich zu öffnen. Einige, darunter Polen, forderten gar, dass die Juden in ihrem Land doch gleich mitverteilt werden könnten.

1938 war das Jahr der Appeasement-Politik. Österreich war »heim ins Reich« geholt und auch wenn der Massenmord an den europäischen Juden noch nicht begonnen hatte: Die Nürnberger Gesetze waren in Kraft und die politische Entrechtung jüdischer Menschen in vollem Gange. Wer damals nicht floh, für den war es mit großer Wahrscheinlichkeit zu spät. Doch für viele gab es keinen Ort, an den sie hätten fliehen können.

Die politische Situation am Vorabend des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts ist mit der heutigen Lage in Europa nicht zu vergleichen. Doch man hätte von Évian zumindest eines lernen können: Die Verantwortung für die Aufnahme von Flüchtlingen von einem zum anderen zu schieben, wird keine Probleme lösen. Damals bedeutete die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft für viele die Deportation und Ermordung in den KZ der Nazis. Heute beschließt die EU, 160 000 Menschen auf ihre Mitgliedsstaaten zu verteilen - immerhin.

Erwartet werden 2015 jedoch allein in Deutschland 800 000 Asylsuchende. Zur Diskussion stehen die Verringerung von »Anreizen« und die bessere Sicherung der EU-Außengrenzen, um den »Ansturm« abzuwehren. »Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten ›Zahlen‹ menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen?«, schreibt Golda Meir zur damaligen Situation. Viele Juden saßen in Nazi-Deutschland fest. Die Flüchtenden heute haben es bis nach Europa geschafft. Nach Syrien können sie nicht zurück. Doch Europa lässt sie nicht nach vorn.

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