Unter dem moralischen Sockel

Für Visa-Erleichterungen, Milliarden und ein bisschen Wahlkampfhilfe soll die Türkei für die EU die Flüchtlingsabwehr besorgen

  • Vincent Körner
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Bundesregierung will die Türkei in Stellung gegen die nach Europa strebenden Flüchtlinge bringen. Ausgerechnet kurz vor den Wahlen. Die deutsche Opposition ist empört, aber auch in der Union gibt es Kritiker.

Wer am Montag in die türkischen Zeitungen blickte, musste den Eindruck gewinnen, Angela Merkel habe bei ihrem Besuch bereits weitreichende Entscheidungen zum Verhältnis zwischen der EU und der Türkei verkündet: »Eine Einigung über den visafreien Reiseverkehr ist unter Dach und Fach«, meldete »Posta«. Und in »Türkiye« hieß es, die Kanzlerin habe in der Frage der Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger, in Sachen EU-Beitrittsverhandlungen sowie bei der Teilung der Lasten für die Versorgung der Flüchtenden ihr Wort gegeben, sprich: Es sollen Milliarden fließen.

Im offiziellen Berlin hörte sich das freilich etwas anders an. Zwar hatte auch Merkel am Sonntag nach ihrem umstrittenen Treffen mit Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und dem autoritären Präsidenten Recep Tayyip Erdogan erklärt, ihre Gespräche seien »sehr erfolgversprechend« verlaufen. Dann verlautete aber, die Kanzlerin habe »einen engeren Kontakt in Fragen einer politischen Lösung des Syrien-Konflikts und des Flüchtlingsstroms angekündigt«, was wiederum »guter Grund für eine Dynamisierung des Aufnahmeprozesses in die EU, der Visaabkommen und der Rückführungsabkommen mit der Türkei« sei.

In anderen Worten: Es soll mehr Tempo in die seit Jahren festgefahrenen Beitrittsgespräche zwischen der EU und der Türkei kommen. Der Prozess - begonnen mit der Nominierung des Landes als Beitrittskandidat 1999, die Verhandlungen laufen seit 2005 - stockt seit Jahren. Von den 35 Beitrittskapiteln sind 14 eröffnet, lediglich eines ist abgeschlossen - zumindest vorläufig. Das hat Gründe, nicht zuletzt liegen diese in der Menschenrechtslage in der Türkei, die scharfe Repression gegen linke und kurdische Gruppen hat zuletzt immer mehr zugenommen, die Auseinandersetzung mit der PKK im Osten des Landes ist zu einem faktischen Bürgerkrieg geworden.

Dass die Bundesregierung, die sonst ungern eine Gelegenheit auslässt, gegenüber anderen Staaten auf die Einhaltung von Menschenrechten zu pochen, nun ausgerechnet mit dem autoritären Erdogan-Regime paktiert, um die Zahl der nach Europa Flüchtenden einzudämmen, empört unter anderem die deutsche Opposition. Was für Bundesinnenminister Thomas de Maizière der »Hauptschlüssel« zur Lösung der politischen Krise im Umgang mit den Asylsuchenden ist, »weil von dort ganz viele Menschen kommen«, sieht Sahra Wagenknecht in Merkels Türkei-Politik als »Anbiederung an den Despot Erdogan«. Die Linksfraktionschefin spricht sogar von einer »moralischen Bankrotterklärung«. Ähnlich äußerte sich Cem Özdemir in der ARD. Der Grünen-Chef erinnerte daran, dass Erdogan »Journalisten in der Türkei einsperren« lässt: »Von seinen Häschern werden sie zusammengeprügelt, Büros von Oppositionsparteien werden angezündet. Das ist die Realität gegenwärtig in der Türkei.«

Von der grundsätzlichen Kritik an der Kooperation mit dem Regime in Ankara abgesehen, spielte in der politischen Debatte über Merkels Türkei-Visite vor allem der Zeitpunkt eine entscheidende Rolle: In der Türkei wird Anfang November erneut gewählt, Erdogan will seine Macht ausbauen - kann laut Umfragen aber nicht wie erhofft mit der nötigen Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament rechnen. Auch die Strategie der Eskalation, die vor allem gegen die linke Oppositionspartei HDP gerichtet ist, hat daran zuletzt nicht viel geändert. Umso schwerwiegender könnte Merkels Besuch als Wahlkampfhilfe sein: Erdogans AKP kann nun mit den in Aussicht gestellten Visa-Erleichterungen gegenüber den Wählern punkten. Ein Treffen mit türkischen Oppositionsvertretern hatte Merkels Reiseplan nicht einmal vorgesehen.

Linksfraktionschef Dietmar Bartsch hatte am Sonntag erklärt, man hätte mit der Reise auch noch 14 Tage warten können. Zudem sei es ein falscher Weg, Ankara Geld dafür zu bieten, dass es Flüchtlinge aus Europa fernhalte. Auch Özdemir schlug diesen Ton an: Es sei zwar grundsätzlich »richtig, dass man mit der Türkei spricht«. Aber durch den Zeitpunkt wirke Merkels Reise »wie eine Wahlkampfhilfe«.

In der Großen Koalition wurden die Kritik weggewischt. De Maizière merkte an: »Wir können nicht immer nur auf dem moralischen Sockel sitzen und alle Welt belehren über Menschenrechtszustände«. Die SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi nannte zwar »die Voraussetzungen außenpolitisch und in der türkischen Innenpolitik höchst schwierig«, sagte aber, es führe »kein Weg an der Zusammenarbeit mit der Türkei vorbei«.

Dort sind nach offiziellen Angaben aus Ankara 2,5 Millionen Schutzsuchende alleine aus Syrien und Irak aufgenommen. Die Türkei hat drei Milliarden Euro für die Versorgung der Menschen im Land gefordert - dreimal so viel wie von der EU bisher angeboten.

Zu weit will man allerdings auch in der Union Erdogan nicht entgegenkommen. CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt sagte, man dürfe »der Türkei nicht zu viele Zugeständnisse machen«. Dabei spielt wohl auch eine Rolle, dass rechte Parteien mit ihrem Nein zu einem EU-Beitritt Stimmung machen - und dabei den rechten Rand der Unions-Wählerschaft im Auge haben. Der Rechtspartei AfD etwa geht es freilich nicht um Menschenrechte oder die politische Situation der Linken in der Türkei. Merkel habe »das völlig falsche Angebot« gemacht, so am Montag Parteivize Alexander Gauland. Die »ungebremste Zuwanderung nach Deutschland«, wetterte Gauland, werde »nicht durch Visa-Erleichterungen« für türkische Staatsbürger aufgehalten. mit Agenturen

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