Verschleierte Schönheit

In »Die Schleierkarawane« wirft Ismail Kadare einen geradezu ethnographischen Blick auf Albanien

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Sein Werk gehört zur Weltliteratur. Seit Jahrzehnten staunen Leser in über 40 Ländern über die Erzählkunst aus dem kleinen Land, das bei vielen erst durch die Kosovo-Krise ins Bewusstsein gelangt ist. Der 1936 in Südalbanien geborene Ismail Kadare wirft mit seiner Prosa einen geradezu ethnographischen Blick auf sein »vergessenes« Land, geht dabei in dessen Geschichte zurück und prangert mit seinen gleichnishaften Geschichten Unfreiheit, Gewalt und Unterdrückung an. »Die Schleierkarawane« enthält die Neuübersetzung von drei bereits 1987 im DDR-Verlag Volk und Welt erstmals auf Deutsch vorgelegten Erzählungen aus der noch osmanisch dominierten Vergangenheit Albaniens. In der Zwischenzeit hatte der Zürcher Ammann-Verlag das Werk von Ismail Kadare gepflegt; jetzt hat es S. Fischer in seine verdiente Obhut genommen.

»Die Schleierkarawane« ist ein eindrückliches Beispiel des hohen Ranges dieses heute in Tirana und Paris lebenden Autors. Die Titelgeschichte handelt von einer Maultierkarawane, beladen mit Hunderttausenden Gesichtsschleiern, die zur weiteren Islamisierung des Landes vom Sultan in Istanbul ausgesandt worden war. Der Karawanenführer Hadschi Milet hatte noch nie unverschleierte Frauen gesehen. Unterwegs begegnet er einigen an einer Quelle und ist von deren Freundlichkeit und Schönheit überwältigt. Er beginnt am Sinn des religiösen Verschleierungsgebots zu zweifeln, fragt sich, was wäre, wenn andere Schönheiten der Welt, der Himmel oder das Meer, Wälder und Berge auch verschleiert wären. Sein Glaube ist stark, das Erlebnis der Schönheit auch. Die Zweifel in ihm werden bemerkt und die »Gesinnungspolizei« des Sultans bringt ihn zur Strecke.

In der zweiten Geschichte geht es um die historisch belegte Auslöschung der gesamten albanischen Elite durch eine verlogene Einladung des Sultans zu einer Versöhnungsfeier. Mit feiner Dramaturgie erzählt Kadare von dem Betrug am guten Glauben, von dem Verrat an allen diplomatischen Gepflogenheiten, von imperialer Gewalt am wuchtigen Ende. Das Beispiel steht für manches in der Gegenwart. Kadares Leser haben sicher Beispiele dessen vor Augen, was hier literarisch an den Pranger gestellt wird.

Die dritte und längste Geschichte ist eine über zwei Jahrhunderte knapp erzählte Familienchronik von Zugereisten, Fremden. Sie werden erst »Einheimische«, als auf dem Friedhof mehr Gräber ihren Namen tragen als Lebende in dem Ort. Das Auf und Ab in ihrem Alltag, die Nachwirkungen von drei Verbrechen, aber auch der Lohn für Tüchtigkeit bestimmen Wohl und Wehe der Familie. Das schlimmste Verbrechen aber war der Zinswucher, der ein altes, verschuldetes Ehepaar in den Selbstmord trieb.

In allen drei Texten verweben sich orientalische Elemente mit denen der »verschleierten« Gedanken einer im Dienste des Menschen stehenden Aufklärung in einmaliger Weise. Auch diese Literatur ist in Europa entstanden, sie wirkt in die ganze Welt hinein. Sie verziert die Nachdenklichkeit, die sie auslöst, mit der Schönheit einer jetzt neu ins Deutsche übersetzten Sprache. Die Kraft nicht abgenutzter Metaphern und Bilder, die Gedanken, die sich auf nicht ausgetretenen Pfaden entwickeln, geben diesen Geschichten aus Albanien ihre Frische.

Es gilt, diesen etwas verborgenen Schatz der Weltliteratur zu heben und nicht zu vergessen.

Ismail Kadare: Die Schleierkarawane. Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S. Fischer, 207 S., geb., 19,99 €.

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