Vater der Moderne

Gestern vor 100 Jahren starb Paul Cézanne

  • Peter H. Feist
  • Lesedauer: 4 Min.
Für die europäische und amerikanische Malerei im 20. Jahrhundert waren mehrere Neuerungen bedeutsam, die im letzten Drittel des voraufgegangenen Jahrhunderts einige Maler, die alle zumindest zeitweise in Frankreich arbeiteten, den herrschenden künstlerischen Gepflogenheiten entgegenstellten. Paul Cézanne war der älteste von ihnen. Seine Kunst übte wohl die nachhaltigste Wirkung, auf sehr verschiedene Nachfolgende, aus. Trotz bisheriger gründlicher Forschung geben selbst zentrale Probleme seines Lebens und Schaffens immer noch Stoff für wissenschaftlichen Meinungsstreit. Im südfranzösischen Aix-en-Provence, wo Cézanne 1839 geboren wurde und 1906 starb, fand die große, zuvor in Washington gezeigte Ausstellung des Jubiläumsjahres statt. Mit einer knappen Schilderung der Stadt, zu deren Bewohnern der Künstler ein zwiespältiges Verhältnis hatte, beginnt auch das neueste der unzähligen Bücher über ihn, eine komprimiert und klug informierende, gut lesbare Biografie von Peter Kropmanns, der mehrfach zur modernen französischen Kunst publizierte. Er zeichnet in erster Linie den Lebensweg und schwierigen Charakter Cézannes nach, eröffnet aber auch mit kurzen Charakterisierungen seiner Gemälde, von denen nur 14 farbig abgebildet werden, einen Einblick in die Entwicklung seines Schaffens und den Beginn seiner erstaunlichen Wirkungen. In anerkennenswerter Weise gibt er nicht vor, alle offenen Fragen beantworten zu können. Cézannes Leben entbehrt der filmreifen Extravaganzen seiner jüngeren Zeitgenossen Gauguin und van Gogh. Seine Bilder, meist Landschaften, Stillleben, Porträts von Familienangehörigen oder Bekannten und nackte Badende im Freien, erregen durch ihre Thematik kaum Aufmerksamkeit. Nur am Beginn seines Schaffens war das anders. Cézanne hatte nur als Gymnasiast etwas Zeichenunterricht bekommen, als Maler war er Autodidakt. Er provozierte zunächst den herrschenden Kunstbetrieb durch ungelenk und wüst gemalte Bilder, teilweise mit gewalttätigen Szenen, die ihn zum geeigneten Objekt für psychoanalytische Deutungen machten. Die Kunstwissenschaft nahm sie erst ernst, als die Postmoderne die gegenständliche, mitteilende Kunst wieder rehabilitierte. Cézanne gab dieses Schaffen etwa 1871 auf, um von nun an fast nur nach der Natur zu malen. Obwohl es Ansätze dazu schon vorher gab, liegt in diesem Wechsel des Konzepts eine einschneidendere Wendung, als es bei Kropmanns erscheint, und bleiben die Gründe dafür im Ungewissen. Cézanne näherte sich den ihm schon bekannten Malern, die ab 1874 als Impressionisten verspottet wurden, und lernte die Prinzipien, denen er von da an folgte, von Camille Pissarro, der ihm auch wegen seiner Einfachheit und seiner anarchistischen Gesellschaftsauffassung sympathischer war, als zum Beispiel der elegante, bourgeoise Manet. Um 1880 hatte er seine individuelle Malweise ausgebildet, in der er Impressionismus mit »Klassizität«, der formalen Geordnetheit der Bilder, die er an alten Meistern bewunderte, vereinen wollte. Erst gegen Ende seines Lebens wurde Cézanne über einen kleinen Kreis von Künstlerkollegen und Kennern hinaus bekannt und als Vorläufer und Anreger der formalen Prinzipien gefeiert, mit denen sich Maler einer jüngeren Generation gegen die auch noch lange nachher weit verbreiteten Auffassungen vom Abbilden der Realität durchsetzen wollten. Die kleine Schar der Fauves um Matisse, die wesensverwandten Expressionisten in Deutschland und die Kubisten um Picasso, der ihn später den »Vater von uns allen« nannte, entnahmen seinen Bildern Gestaltungselemente und benutzten sie auf eine Weise, von der man inzwischen weiß, dass sie nicht jenen Absichten entsprach, die Cézanne verfolgte. Kunstgeschichte kennt auch den Fortgang infolge von Missverständnissen oder Umdeutungen. Jahrzehntelang wurden leichte Abweichungen von der Zentralperspektive, zum Beispiel an Häuserecken, Früchtestillleben auf einem Tischchen oder ein zerknittertes Tuch an der Tischkante zu Bildmotiven, mit denen Maler ihren Dank an Cézanne anzeigten. Dass Cézanne damit zu einem Vater der Moderne wurde, bestimmte die Meinungen über seine Kunst auch bei denen, die als Dogmatiker einer engen Auffassung von sozialistischem Realismus meinten, den »Cézannismus« als bloßen Formalismus bekämpfen zu müssen. Dabei gehört zu Cézannes herausragender Stellung in der Kunstgeschichte sicherlich ganz besonders, dass er dem »Bild« im Sinn einer Tradition, die wir Realismus nennen, zu einer neuen, lebendigen Wirkungskraft verhalf. Die Aufmerksamkeit und Wertschätzung sollte stärker, als es der Fall ist, darauf gerichtet sein, wie sehr sich Cézanne darum mühte und wie es ihm gelang, das Abbild von Gesehenem und Empfundenem und das Bild als etwas Gemachtes mit eigenen Werten ins Gleichgewicht zu bringen. Man weiß mit ausreichender Sicherheit, dass Cézanne bis zuletzt »nach der Natur realisieren« wollte, »Konstruktionen nach der Natur, ausgehend von den Mitteln, den Empfindungen und Entwicklungen, die das Modell suggeriert«, wie er seinem Sohn schrieb, zehn Tage, bevor ihn der Tod ereilte, weil er sich beim Aquarellieren im Freien in einem stundenlangen Regen erkältet hatte. Realismus kann heute auch andere Wege einschlagen, aber für Cézanne ging es darum, genaue Äquivalente für den emotionalen Gehalt und die spannungsreiche formale Harmonie, als die er die Natur begriff, zu finden. Er war nicht so anmaßend, die Natur korrigieren zu wollen, und traute der Kunst auch nicht zu, die Gesellschaft umzustürzen. Aber den Wunsch, dass sich das Zusammenleben der Menschen im Einklang mit der Natur so gestalten möge, wie in seinen späten großen »Badenden«, sollte sie sehr wohl aufleuchtend vermitteln. Peter Kropmanns: Cézanne. Eine Biographie, Stuttgart: Reclam, 231 S., geb., m. 35 Abb., 21,90 EUR.

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