Das Gespenst der Bedeutungslosigkeit

Im Warschauer Parlament existiert Polens Linke nicht mehr. Von Holger Politt, Warschau

  • Holger Politt
  • Lesedauer: 7 Min.

Den auffallenden Rechtstrend in Polen zeigt neben dem Regierungswechsel vor allem die Niederlage der Linkskräfte an. Obwohl immerhin elf Prozent der abgegebenen Wählerstimmen zu Buche stehen, bleibt die linke Seite im Parlament verwaist.

Viele Jahre waren sie wie Feuer und Wasser. Jetzt ist aller gewichtige Unterschied zwischen den beiden grundlegenden Richtungen linksgerichteter Politik in Polen nur noch einer von Geschichte. Die einen waren überall präsent, die anderen nicht. Doch im Augenblick ist alles, was in Polen links genannt werden will, gleichermaßen an den Rand gedrängt - egal nun, ob mit sozialdemokratischer oder grundsätzlicherer Färbung. Um Polens Linke auf die große politische Bühne zurückzuführen, wird es wohl Jahre brauchen.

Noch ist der Schock nicht überwunden, den die Wahlniederlage bei denjenigen hervorgerufen hat, die an die parlamentarische Vertretung wie an etwas Selbstverständliches gewöhnt waren. Nach 1989/90 hatte ein sehr aktiver Kern von talentierten Politikern, die aus der einstigen Einheitspartei PVAP hervorgegangen waren, Polens Politik mitbestimmt. Sehr schnell stellten sich sogar kaum für möglich gehaltene Erfolge ein, wurden sie in der breiten Öffentlichkeit doch immer als Postkommunisten, also als Schmuddelkinder gebrandmarkt. Leuten wie Aleksander Kwaśniewski, Józef Oleksy, Włodzimierz Cimoszewicz oder Leszek Miller gelang es jedoch, größere und vor allem stabile Wählerschichten um ein sozialdemokratisches Projekt zu scharen, das gegenüber dem sich immer mehr zerfasernden einstigen »Solidarność«-Lager durch relative Geschlossenheit auffiel.

Spätestens mit dem ersten Achtungszeichen von 1993, als das linksgerichtete Bündnis SLD (Demokratische Linksallianz) zur stärksten Fraktion im Sejm aufstieg, und mit dem Paukenschlag von 1995, als Kwaśniewski sich in der Stichwahl gegen Lech Wałęsa durchsetzen konnte und Staatspräsident wurde, war allen klar, dass diese ungeliebten Postkommunisten das linke Spektrum beherrschen.

Das spürten auch diejenigen, die wie Ryszard Bugaj oder Piotr Ikonowicz vergeblich versuchten, eine erfolgreiche linke Strömung aus dem ehemaligen »Solidarność«-Umfeld aufzubauen. Bugaj stellte sich konsequent gegen die SLD, wollte mit ehemaligen PVAP-Leuten nichts zu tun haben. Zumindest 1993 gelang das im Ansatz, als die Union der Arbeit (UP) ins Parlament einzog. Später konnten Abgeordnetenmandate allerdings nur noch durch Schulterschluss mit der SLD gesichert werden, so dass Bugaj die von ihm mitbegründete Partei verließ und von der großen politischen Bühne verschwand. Heute gehört er zum Beraterstamm des neuen Staatspräsidenten Andrzej Duda. Ikonowicz versuchte es auf unterschiedlichen Wegen, wollte zunächst die Polnische Sozialistische Partei (PPS) zu einer solchen Kraft aufbauen, wobei er das Bündnis mit der SLD in Kauf nahm, um wenigstens die parlamentarische Bühne nutzen zu können. Als Miller 1999 die SLD zur Partei umwandelte und diese in ihrer Mehrheit das NATO-Vorgehen im ehemaligen Jugoslawien akzeptierte, trennten sich die Wege. Auch Ikonowicz verschwand für immer von der großen Bühne und profilierte sich alsdann zu Polens bekanntestem Sozialrebellen.

Seit 2001, als die SLD im Bunde mit der UP knapp an der absoluten Mehrheit im Sejm vorbeischrammte, gab es für lange Jahre keine linksgerichtete Kraft mehr, die es als bewusste Alternative zur SLD mit einem Parlamentseinzug geschafft hätte. Es ging, wenn überhaupt, immer nur im Schlepptau der Linksdemokraten. Erst 2011 wurde dieses Monopol gebrochen - durch Janusz Palikot. Der umtriebige Liberale brach mit der regierenden Bürgerplattform (PO), gab sein Abgeordnetenmandat zurück und schaffte eine kleine Sensation. Mit einer strikt linksliberal ausgerichteten Liste bekam er auf Anhieb zehn Prozent der abgegebenen Wählerstimmen, mehr als die SLD. In wichtigen Verfassungsfragen wie Trennung von Staat und Kirche oder rechtliche Gleichstellung von Minderheiten überholte er die SLD sogar von links, weil er konsequenter und hartnäckiger die Einhaltung des Verfassungsgeistes forderte. Zudem konnte er Hunderttausende Wählerstimmen junger Menschen binden, was nicht wenige Beobachter an Kwaśniewskis Triumphzug von 1995 erinnerte, als dieser mit der Losung »Wir wählen die Zukunft« vor allem bei jüngeren Wählerschichten überdurchschnittlichen Rückhalt fand.

Vor vier Jahren bekamen Polens Linkskräfte zusammengerechnet noch fast 20 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen. Vier Jahre später war dieser Anteil nahezu halbiert. Die SLD und die Palikot-Leute traten nun gemeinsam an und holten außerdem noch weitere, kleinere Gruppierungen an Bord, darunter die UP und die PPS. Als Vereinigte Linke sollten die Wählerstimmen gebündelt werden, um wenigstens im Parlament zu bleiben. Dafür bedurfte es aber laut Wahlgesetz des Überspringens einer höheren Achtprozenthürde, woran man knapp scheiterte. SLD und Palikot-Liste verloren gegenüber 2011 also fast 13 Prozentpunkte, ein dramatischer Wert, denn im Grunde blieb nur das weiter in die Jahre gekommene und immer mehr zusammenschmelzende SLD-Wahlvolk noch treu. Wäre die SLD alleine angetreten, hätte sie mit ihren übrig gebliebenen Stammwählern die Fünfprozenthürde wahrscheinlich übersprungen. Zugewinne hingegen aus neuen und vor allem bei den jüngeren Wählerschichten blieben aus. Die Vereinigte Linke wurde weithin nicht als Ausdruck für einen neuen, linksgerichteten Aufbruch angenommen, sondern als eine Notgemeinschaft von Gescheiterten, die zu retten suchen, was noch zu retten geht.

Daran konnte auch Barbara Nowacka wenig ändern, die Spitzenkandidatin des gescheiterten Parteienbündnisses. Ex-Staatspräsident Kwaśniewski meinte hinterher, es wäre besser gelaufen, wenn die Präsidentschaftswahl im Frühjahr genutzt worden wäre, um die Spitzenkandidatin landesweit bekannter zu machen. Doch damals gingen erstens fast alle davon aus, dass Amtsinhaber Bronisław Komorowski die Wiederwahl bereits sicher in der Tasche habe, und zweitens hatten sich Miller und Palikot längst noch nicht auf die Vereinigte Linke einigen können.

Im zusammengerechneten Ergebnis für Polens linksgerichtete Kräfte entfällt ein gutes Drittel der Stimmen auf die erst in diesem Jahr frisch ins Leben gerufene Partei Razem (Zusammen). Hier fanden sich in erster Linie diejenigen, die auf gar keinen Fall mit der SLD zusammengehen wollten. Die an Jahren noch gar nicht so alten Mitstreiter blieben der Linie treu, die einst Bugaj begründet hatte.

Gründe für einen solchen Affront ließen sich viele anführen, das Sündenkonto der Linksdemokraten ist lang. Hauptzielscheibe war dabei Miller, der wie kein anderer Glanz und Elend dieser Formation verkörpert. Als Ministerpräsident in den Jahren 2001 bis 2004 verwies er gerne auf die unsichtbare Hand des Marktes, wenn es soziale Ungerechtigkeiten oder überhaupt mangelnde Sozialpolitik zu verteidigen galt. Ein bekannter Publizist meinte kürzlich sogar, unter Millers Fittichen hätte sich eine Linke der Imitate herausgebildet, die nun zum Glück gescheitert sei.

Insofern vertritt Razem natürlich die waschechte Linke, die viele Vorbilder aus anderen Gegenden Europas aufzunehmen sucht und zugleich am Stolz auf die »Solidarność«-Bewegung nicht rütteln will, weil es ja zuallererst ein Arbeiteraufstand gewesen sei, der den richtigen politischen Gegner traf. Unverkennbare Sympathien gab es in der Wahlkampagne für SYRIZA in Griechenland und für Podemos in Spanien. Zugleich wurde verzichtet, einen oder mehrere Spitzenkandidaten aufzustellen, weil die junge Partei sich im Unterschied zu den anderen Listen und insbesondere zur Vereinigten Linken als basisdemokratische Bewegung herauszustellen suchte.

Erst das strenge Format einer Fernsehdebatte zwang die Partei, doch nur einen Vertreter zu entsenden. Adrian Zandberg, etwa im gleichen Alter wie Barbara Nowacka, wurde hinterher als die Entdeckung der Debatte und damit der gesamten Wahlkampagne gefeiert. Tatsächlich gelang es ihm, das Motto von Razem gekonnt unter die Leute zu bringen: Eine andere Politik ist möglich.

Selbst die »Gazeta Wyborcza«, noch immer das liberale Flaggschiff im Lande, kam nicht umhin, den sprichwörtlichen Hut zu ziehen, sei doch zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit der komplizierte Zusammenhang zwischen höheren Staatseinnahmen auf der einen und höheren Staatsausgaben auf der anderen Seite gekonnt dargestellt worden, anders als sonst üblich bei den Hohepriestern von schlankem Staat und niedrigen Steuern. Diesbezüglich kaufte er auch Barbara Nowacka klar den Schneid ab. Hinterher gab es nicht wenige, die meinten, dass Razem die Fünfprozenthürde übersprungen hätte, wenn Zandberg von Anfang an das klar erkennbare Gesicht der Wahlkampagne gewesen wäre. Tatsächlich waren die Umfragewerte vor der Fernsehdebatte kümmerlich, selbst die Dreiprozenthürde, die gilt, um in den Genuss staatlicher Parteienfinanzierung zu kommen, schien außerhalb jeder Möglichkeit. Schließlich wurden es fast vier Prozent, die am Wahlabend entsprechend gefeiert wurden, denn nunmehr eröffnet sich vor der Partei die Perspektive, landesweit Strukturen mit festen Anlaufpunkten aufbauen zu können.

Mehr noch als das eigene Abschneiden wurde die Niederlage der Vereinigten Linken bejubelt. Für Miller und Konsorten habe man sich als überzeugte Linke immer schämen müssen, hieß es noch auf der Wahlparty. Und ganz wie bei den Rechten im Lande gab es auch unter den Razem-Leuten Stimmen, die schadenfroh meinten, mit dem 25. Oktober 2015 sei das Kapitel des Postkommunismus endgültig geschlossen worden. Wenn man so will, dann ist Bugajs einstige Hoffnung, neben den Postkommunisten möge eine gleichstarke, durch den Staatssozialismus unbefleckte Linke bestehen, doch noch spät in Erfüllung gegangen. Allerdings liegt man nun gemeinsam am Boden, auch wenn die einen ihre Wunden lecken und die anderen triumphieren. Wie daraus ein kraftvoller Neuanfang für Polens Linkskräfte werden kann, bleibt abzuwarten.

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