Glück ohne Freiheit

Samjatins »Wir« als Hörspiel

  • Sebastian Loschert
  • Lesedauer: 3 Min.

»Die Vernunft muss siegen!«, ruft der Protagonist in Jewgenij Samjatins utopischem Roman »Wir« am Ende - selten wirkte dieser Satz so schwarz, so beißend, so vernichtend wie an dieser Stelle des 1920 geschriebenen Werks. Denn eine brutale Vernunft herrscht im einzigen Staat des 26. Jahrhunderts, die nichts mehr mit dem Vernunftideal des 18. Jahrhunderts zu tun hat. Jetzt liegt eine Hörspielfassung des Buches vor, die am Donnerstag im Roten Salon der Volksbühne vorgestellt wurde. »Das Interesse an schwarzen Utopien liegt in der Luft, vielleicht weil so viel im Umbruch ist«, sagte Antje Röttgers, Lektorin im Berliner Audio Verlag.

»Wir« spielt in einem fiktiven totalitären Einheitsstaat, in dem die Individuen der Gleichheit und dem Kollektiv geopfert werden, Nummern statt Namen tragen, die Tage für den Geschlechtsverkehr und die Anzahl der Kaubewegungen beim Essen vorgegeben sind, alles im Takt des Taylorismus funktioniert, wo Freiheit Verbrechen und Zwang Glück bedeutet. Als eine Rebellion ausbricht, an der auch D-503, so die Nummer des Protagonisten, beteiligt ist, greift der Staat zur ultimativen Lösung: Durch Operationen soll es gelingen, die Fantasie zu liquidieren und die Menschen vollständig »unter das segensreiche Joch der Vernunft« zu beugen.

»Ich habe nie die gläserne Stadt vergessen, die er wunderbar durchsichtig und hart gegen einen unveränderlich blauen Himmel errichtet hat«, schrieb Simone de Beauvoir 1960 über Samjatin. Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts wuchs das Interesse an diesem »eigenartigen Zukunftsroman« (Beauvoir), der zum Vorbild für Huxleys »Schöne neue Welt« und Orwells »1984« wurde, jedoch nie den Bekanntheitsgrad der Nachahmungen erreichte. Erst 1958 wurde er ins Deutsche übersetzt, erst 1988 in der Sowjetunion veröffentlicht.

Die Kritik des ketzerischen Revolutionärs Samjatin am totalitären Denken hat sich schon im Lauf der 1920er Jahre als zutreffend erwiesen. Ab 1922 war Samjatin in der Sowjetunion zunehmenden Anfeindungen ausgesetzt, 1931 floh er nach Paris. Er habe, so schrieb er in einem Brief an Stalin, in dem er um Ausreise bittet, »die unangenehme Eigenschaft«, »nicht das zu sagen, was im gegebenen Moment genehm ist«. Er habe aus seiner »Haltung zu literarischem Kriechertum, zu Liebedienerei und Schönfärberei in der Literatur nie einen Hehl gemacht«.

Das »intuitive Gespür für die irrationalen Seiten des Totalitarismus« hatte schon George Orwell 1946 am Roman fasziniert. Literaturwissenschaftler Thomas Möbius schreibt in seiner jüngst erschienen Dissertation über russische Sozialutopien: »Er ist für die Utopiegeschichte richtungsweisend: Mit ›Wir‹ beginnt der dialektische Umschlag der Utopie.« Die Kritik an der gesäuberten, moralfreien, instrumentellen Vernunft, die Horkheimer später übt, auch die Forderung nach Ergänzung des Marxismus, die Bloch zeitgleich in Deutschland formuliert, finden in der Dystopie »Wir« eine literarische Verwandte.

Das Hörspiel mit eigens komponierter, an die Stummfilmzeit erinnernde Musik vom Radio-Sinfonieorchester Stuttgart ist ein ausgezeichneter Grund, Samjatin neu zu entdecken.

Jewgenij Samjatin: »Wir«. Hörspiel mit H. Zischler, A. Pietschmann u.a. Der Audio Verlag. 2 CDs. 16,99 €.

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