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Die bewusste Geste

65 Jahre Haus am Lützowplatz: Aus »Berliner Realisten« sind in einer neuen Aus­stellung »Berliner Realistinnen« geworden

  • Matthias Reichelt
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Hammer vom Lützowplatz: »Andrea II« in Bronze von Zuzanna Czebatul. Frage einer lesenden Arbeiter*in: ist Andrea männlich oder weiblich?
Der Hammer vom Lützowplatz: »Andrea II« in Bronze von Zuzanna Czebatul. Frage einer lesenden Arbeiter*in: ist Andrea männlich oder weiblich?

Im Berliner Haus am Lützowplatz gibt es »Berliner Realistinnen« zu sehen. Diese Ausstellung nimmt Bezug auf eine legendäre Ausstellung aus dem Jahr 1971 am selben Ort. Sie hieß »Berliner Realisten« und begründete die dortige Tradition der »1. Mai Salons«. Unten den damals versammelten 28 »Berliner Realisten«, darunter Hans-Jürgen Diehl, Johannes Grützke, Matthias Koeppel, Marwan und Wolfgang Petrick, war nur eine Frau: Barbara Keidel. Deshalb soll die neue Ausstellung als »genderpolitisches Engagement« und »bewusste Geste der Gleichberechtigung« verstanden werden. Die einzige Kontinuität in der von Sarah Letzel, Marc Wellmann und Asja Wolf zusammengestellten Schau ist ein Gemälde von Barbara Keidel, das ein Interieur mit Spiegel und indirektem Porträt zeigt.

Mit dieser Ausstellung feiert das Haus am Lützowplatz (HaL) sein 65-jähriges Bestehen. Es wird getragen vom Förderkreis Kulturzentrum Berlin e. V., der aus der lokalen SPD hervorging und 1960 das ehemalige Wohnhaus der Familie des jüdischen Kaufmanns Egon Sally Fürstenberg am Lützowplatz 9 nach einem erfolgreichen Restitutionsverfahren von den Erben erwarb. Zuvor war der Nutznießer des Gebäudes der nazifizierte und von jüdischen Mitgliedern gesäuberte Verein Berliner Künstler gewesen, der das Haus 1938 von den Fürstenbergs erworben hatte, die es aufgrund der Arisierungspolitik des NS-Regimes veräußern mussten. Lange Zeit sperrte sich der auch heute noch existierende Verein mit juristischen Mitteln gegen eine Restitution bzw. gegen eine gerechte Entschädigung.

Das HaL sollte dagegen nach den Vorstellungen des damaligen Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt »ein Kulturzentrum von weltoffenem und demokratischem Format« werden. Während unten im Keller der Kabarettist Wolfgang Neuss auf seine Pauke haute, »groß sinnlich und vulgär«, wie Franz Josef Degenhardt meinte, und mit seinen Schimpflitaneien den Kalten Kriegern und Revanchisten die Leviten las, wurden oben Kunst-Ausstellungen gezeigt.

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Auch die Kommunale Galerie des Kunstamtes Tiergarten residierte eine ganze Zeit lang auf einer Etage. Ab 1962 gehörte dem Förderverein auch Egon Bahr an, damals Pressesprecher des Berliner Senats. Somit versammelte der Verein die Architekten der »Entspannungspolitik«, von der sich die heutige Sozialdemokratie schmählich distanziert, wie 1914 erneut auf Militarisierung setzt und an dem, unter demokratischen Gesichtspunkten, hochproblematischen Durchwinken des 500-Milliarden-Pakets beteiligt ist.

Das HaL erinnert in einem eindrucksvoll gestalteten Raum mit Dokumenten in Vitrinen an die Geschichte des Hauses und die Gründung des Fördervereins. Auf einer sich über zwei Wände erstreckenden Fototapete – eine 180-Grad-Panorama-Aufnahme des noch stark vom Krieg gezeichneten Lützowplatzes samt Umfeld von Otto Borutta vom 25. Juli 1956 – finden sich kleine Schwarz-Weiß- und Farbfotografien, die die diversen Etappen der Gestaltung des heutigen Lützowplatzes dokumentieren. In dem für Videoprojektionen genutzten Raum sind alte TV-Berichte des SFB über frühe Kunstausstellungen zu sehen.

Bei der Ausstellung »Berliner Realistinnen« fällt auf, dass sich die meisten Werke um emanzipative Aspekte drehen, um das Hinterfragen traditioneller Codes von Weiblichkeit und um Diversität, aber im Gegensatz zur 1971er Ausstellung, andere gesellschaftspolitische Themen kaum behandelt werden.

Eindrucksvolle Skulpturen von Birgit Dieker und Sonja Alhäuser sind zu bewundern. Die Erstgenannte zeigt ein Objekt aus Gehstöcken, Miederwaren und Polstermaterial, eine bizarre und eher furchterregende Akkumulation üppiger Brüste auf drei Beinen. Alhäusers weibliche »Kentaurin« aus Margarine ist auf engstem Raum in eine gläserne Kühlvitrine gesperrt, die gleichzeitig das Überleben sichert.

Alle Räder stehen still... Was wurde aus dem in der Arbeiterbewegung so beliebten Motiv des starken Arbeiterarms, der oft mit einem Vorschlaghammer ausgestattet war? Die aus Polen stammende Zuzanna Czebatul löst den Hammer aus der männlichen Symbolfigur. Eine kopflose Schulter samt muskelbepacktem und Hammer schwingendem Arm oszilliert konnotativ zwischen Erschaffen und Zerstören. Die Ambivalenz wird zusätzlich verstärkt durch den Titel »Andrea«, ein Name, der für beide Geschlechter gebräuchlich ist.

Aus den malerischen Positionen stechen Stefanie Hillich mit ihrem Wurstboxer, Fee Kleiß mit ihrem Stillleben im Stillleben sowie Tanja Selzers aus einem Porno entlehnten weiblichen Akt auf einem Baumstamm hervor. Auch die Gemälde von männlicher Kleidung der russischen Schwestern Maria und Natalia Petschatnikov sind bravourös.

Das wohl drastischste Bild stammt von der in New York geborenen Shanee Roe. In ihrem Gemälde ist der männliche Körper ganz auf die sexuellen Wünsche der Frau reduziert. Statt in einen Kopf läuft der Hals in einen Penis aus, der im Mund der Frau verschwindet, während das untere Glied in ihrer Vagina steckt. Roe dreht den Spieß der sexuellen Ausbeutung des weiblichen Körpers und seiner Reduktion auf männliche Triebbefriedigung sarkastisch um.

»Berliner Realistinnen«, bis zum 9.6., Haus am Lützowplatz, Berlin.

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