Wir sind Hitler?

Der umstrittene Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg wird achtzig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Überall im Zentrum von Demmin stehen ohne erkennbare Ordnung diese hässlichen Wohnblocks. Syberberg nennt es eine »enthauptete Stadt«. In der Charakterisierung der nur halb wiedergefundenen Orte seiner Kindheit ist Syberberg kompromisslos expressiv. Er spricht von einer »verwüsteten Seelenlandschaft« - solch drastische Urteile haben ihm hier Feinde gemacht.

Dabei nimmt man ihm wohl hauptsächlich übel, dass er in Nossendorf bei Demmin geboren wurde und nun als jemand, der ebenso in München, Paris oder New York zu Hause sein könnte, hierher zurückkehrte. Ein weltläufiger Pommer, der seine Ansprüche an die Provinz aus den Metropolen mitbrachte. Er hat den gleichen harten Schädel wie jene, mit denen er hier zur Schule ging - und ist doch anderswo ein Anderer geworden. Einer, dem man sein Fremdsein ebenso anmerkt wie seine Sehnsucht nach Kindheitsorten.

Demmin, sagt er, hat das Trauma des Kriegsendes nie verarbeitet. Hitler war schon tot, als der Roten Armee die Stadt am 1. Mai kampflos übergeben wurde. Aber dann vergiftete ein Apotheker mehrere russische Offiziere, und zur Vergeltung wurde die Stadt in Brand gesteckt und systematisch wurden Frauen vergewaltigt. Es kam zu einer Massenpanik, bei der sich Hunderte von Frauen und Kindern in der Tollense ertränkten. Syberberg war damals neun Jahre alt und sah von Nossendorf aus den sich blutrot verfärbenden Himmel über Demmin.

Das elterliche Gutshaus stand 1989 noch mitten in einer Industriebrache. Jetzt ist es ein von ihm entwickeltes »Gegenweltmodell«, eine grüne Oase, die man per Webcam in aller Welt besichtigen kann (bis zu 20 000 Besucher aus aller Welt schalten täglich nach Nossendorf). Richtig heizbar ist das alte Haus nicht, bequem auch nicht, aber in aller Kargheit doch schön. Wenn man unter Schönheit den Sinn für eine Lebenshaltung versteht, die sich einen Ausdruck schafft.

Syberberg, der konsequenteste Ästhetisierer des deutschen Films, polarisierte von Anfang an. Darf man Hitler, den Massenmörder, denn ästhetisieren, ist das Böse etwa schön? Gegen die Ästhetisierung liefen die 68er Sturm. Verführung, Faszination und Rausch, diese Wirkmechanismen von Kunst, galten ihnen schon als profaschistisch. Darum standen für sie Wagner und Romantik so unter Verdacht, denn mit ihnen tauchte Syberberg tief ein in die zerstörerischen Möglichkeiten des Menschen. Aber wohnen nicht genau dort auch die Immunisierungskräfte gegen jene billigen Ressentiments der Nazis gestern wie heute, die nicht an einem Zuviel, sondern einem Zuwenig an Phantasie kranken?

Syberberg wusste, worauf er sich einließ, als er seine »deutsche Triologie« begann - über Ludwig II., Karl May und Hitler. Die tonangebende Kritik reagierte hierzulande auf diesen Versuch einer deutschen Seelentopographie verärgert bis feindlich. Für Syberberg war eine derartige Selbstgerechtigkeit unannehmbar. Warum lasen denn die Deutschen nicht ein so wichtiges Buch wie Max Picards »Hitler in uns selbst« von 1946? Weil sie der Meinung waren, Hitler habe mit ihnen nichts zu tun, sie trügen ihn nicht mit sich?

Hätte Hans-Jürgen Syberberg nicht so starken internationalen Beistand für seinen Hitler-Film gefunden, der wie ein übersteigertes Wagner-Epos daherkommt, ein Assoziations-Rausch, der sieben (!) Stunden andauert, Syberberg wäre wohl zwischen den ideologischen Verdächtigungsfronten zerrieben worden. Kann es sein, dass Kunst und Verbrechen aus der gleichen Wurzel wachsen?

Es waren die Franzosen und Amerikaner, die Syberbergs Bedeutung erkannten. Michel Foucault etwa nannte den Hitler-Film ein »schönes Monster« und schrieb weiter: »Syberberg ist es gelungen, dieser Geschichte eine gewisse Schönheit zu geben - ohne das zu verdecken, was ihr an Niedrigem, Gemeinem, Alltäglich-Verächtlichem anhaftet. Vielleicht hat er damit am Nazismus getroffen, was diesen am allermeisten hexenhaft machte: eine gewisse Eindringlichkeit der Niedertracht, ein gewisses Schillern des Mittelmaßes - was ohne Zweifel eine Zaubermacht des Nazismus war.« Susan Sontag hat es angesichts des Hitler-Films auf den Punkt gebracht: »Mit Hitler meint Syberberg nicht allein jenes Geschichte gewordene reale Monstrum, das die Verantwortung für den Tod von Millionen und Abermillionen Menschen trägt. Er zielt vielmehr auf ein Hitlertum, das den historischen Hitler selbst überlebt hat, ein spukhaftes Ingredienz der modernen Kultur, ein böses Prinzip von grenzenloser Wandlungsfähigkeit, das die Gegenwart durchtränkt und sie zur Reprise der Vergangenheit macht.« Heißt das, wir sind noch lange nicht aus dem Schatten Hitlers heraus, gerade dann nicht, wenn wir meinen, besonders modern, also effektiv zu sein?

In New York war man, als 1977 Syberbergs »Hitler - ein Film aus Deutschland« herauskam, sofort hellwach. Francis Ford Coppola, der sich mit »Apocalypse Now« herumschlug, bei aufwendigen Drehs im Urwald das Herz der Finsternis suchte, war fasziniert davon, wie simpel-umstandslos und dabei so überaus kunstsinnig Syberberg das Phänomen des Bösen umkreiste. Kulissen aus Pappe, sprechende Puppen, einzelne Schauspieler wie Heinz Schubert oder Peter Kern, die Monologe zelebrierten, schon weil man sich Mitspieler kaum leisten konnte - und trotzdem wirkt nichts an dem Film billig. Wie kann das sein?

Coppola organisierte dann den USA-Vertrieb, Scorsese verbeugte sich vor Syberberg. Seltsam, dass dieser dennoch nie in das Bewusstsein des durchschnittlichen deutschen Kinogängers eindrang. Wahrscheinlich lag es am kompromisslosen Übermaß dieser so offensiv artifiziellen Filme, auf die die Filmindustrie panisch reagierte.

Syberberg sucht immer die Form einer Collage, die sowohl fasziniert als auch diese Faszination wieder reflexiv bricht. Das ist für ihn der Zugang zum Phänom Hitler, der sein zerstörerisches Werk schließlich nur ins Werk setzen konnte, weil es ihm gelang, die Massen zu hypnotisieren und der dabei zu verhindern suchte, dass der Einzelne selbst darüber entschied, ob er das überhaupt wolle. Die Freiheit, sich einem Rausch zu verweigern, aber ist die Vorbedingung, sich ihm hinzugeben! Das ist die Stärke von Kunst. Ideologie ist es, wenn der Rausch zwanghaft wird. Den individuellen Rausch gegen den kollektiven zu stellen, damit beginnt Aufklärung.

Dieser Hitler-Film ist ein »kalter Rausch«, der sich selbst in seinen Ekstasen beobachtet. Er immunisiert mittels Spiel gegen jenes Unheil, das aus den Allmachtsphantasien der Macher erwächst. So fordert jedes Pathos die Ironie heraus, bringt das Puppenspiel den heroischen Trieb wieder auf ein menschliches Maß.

An diesem Dienstag nun wird Hans-Jürgen Syberberg, dieser einzigartig formbewusste Störfall des deutschen Kinos, achtzig Jahre alt.

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