Schreiben, um zu erinnern

Zwischen Saudade, Nelkenrevolution und Wirtschaftskrise - ein Gespräch mit der portugiesischen Schriftstellerin Lídia Jorge

  • Lesedauer: 5 Min.

nd: Der portugiesische Schriftsteller Teixeira de Pascoaes (1877-1952) sagte einmal, die Saudade sei »das eigentliche spirituelle Blut der portugiesischen Rasse«. Empfinden die Portugiesen heute auch noch so?
Jorge: Heute spricht man nicht mehr von Rasse, und das Wort Saudade hat mittlerweile andere Konnotationen. Es handelt sich um eine Mythologie, die aus der Vergangenheit stammt und deren Begründung weit in die Historie des Landes zurückreicht. Heute kreuzt sie sich mit eher universellen Gefühlen.

Welche historischen Hintergründe gab es für die Saudade?
Die Portugiesen gehörten aufgrund der großen Diaspora ab dem 16. Jahrhundert zu den Autoren der ersten Globalisierung. Ende des 15. Jahrhunderts gab es gerade einmal drei Millionen Portugiesen, und viele gingen hinaus in die weite Welt. Genau das sollte unseren anthropologischen Charakter prägen. Die leise Vermutung, dass man fortging und kaum eine Aussicht auf Rückkehr hatte, ließ die Ahnung eines unvollendeten Todes aufkommen. Ein doppeltes Gefühl entstand: der physische Wunsch der Rückkehr und gleichzeitig ein abstrakter, metaphysischer Wunsch, der sich nur im Jenseits erfüllen würde. Das ist die Saudade, und das macht es so schwierig, dieses lusitanische Gefühl anderen Völkern zu erklären. Es gibt in der portugiesischen Literatur ganze poetische und philosophische Reihen, die das erläutern.

Lídia Jorge

... 1946 an der portugiesischen Algarve geboren, wuchs als Einzelkind in einem Frauenhaushalt auf. Der Vater, die Großväter und Brüder waren ins Ausland abgewandert. Jorge ging zum Studium nach Lissabon. Ab Ende der 1960er Jahre bis 1974 lebte sie in Angola und Mosambik.

Ihr umfassendes Romanwerk erzählt die Chronik des zeitgenössischen Portugals. Die portugiesische Diaspora, die Kolonialkriege in Afrika und die Nelkenrevolution von 1974 bilden oftmals den Rahmen für ihre fantastisch-wundersamen Geschichten. Auf Deutsch sind ihre Bücher (zuletzt »Milene«, 2005) bei Suhrkamp erschienen. Das Gespräch mit Lídia Jorge führte Ute Evers in Lissabon.

Und heute?
Heute ist die portugiesische Saudade vergleichbar mit dem »homesick« von überall her, stellt doch die Entfernung keine dramatische Realität mehr dar. Seit etwa dreißig Jahren haben die Massenmedien die Entfernungen verkürzt, ja fast schon aufgehoben. Die neuen Kommunikationsmedien erlaubten es, dass sich die Portugiesen selbst entdramatisierten.

Von dieser Perspektive aus gesehen glaube ich, charakterisiert uns heute dieses nostalgische Gefühl, sich von der Distanz angezogen zu fühlen, nicht mehr. Es handelt sich um eine Mythologie, die wir genährt haben wie ein Erbe, das uns von anderen unterscheiden sollte. Es ist zur Erinnerung dessen geworden, was wir einmal waren. Was aber nicht heißt, dass Saudade in der Kunst, der Literatur und im Fado nicht weiterhin präsent wäre.

Ein weiteres »typisch portugiesisches Thema« ist die Nelkenrevolution. Wie präsent ist sie heute noch?
Diese Revolution ist immer noch ein fundamentales Element in unserem Imaginário, wie der Holocaust
in Deutschland, der Bürgerkrieg für die Schriftsteller in Spanien, wie das Viktorianische Zeitalter für die Briten, für die Franzosen ist es die deutsche Besetzung; jedes Land hat solche Elemente, um die es sich in konzentrischen Kreisen dreht, denn bis heute sind sie nicht gelöst. In Portugal haben wir zwei große Faktoren: den Kolonialkrieg und die Beziehung zu Afrika und die Revolution. Es ist schwierig, diesen Themen auszuweichen, irgendwann begegnet man ihnen doch wieder.

Sie ist ein so oft neu beleuchtetes und so zentrales Thema im Leben der Portugiesen, dass es vom künstlerischen Standpunkt aus problematisch geworden, ja fast schon gefährlich anmutet, es poetisch neu zu erschaffen. In der Politik hat man so viel darüber gesprochen, dass es schwierig ist, es literarisch zu behandeln. Und aus künstlerischer Sicht gibt es ein Vorurteil: Es sei noch sehr zeitnah. Deswegen gibt es bisher nur wenige Romane über die Nelkenrevolution.

Sie haben die Nelkenrevolution literarisch erfolgreich verarbeitet. Die Resonanz auf Ihren neuesten Roman »Os Memoráveis« in Portugal wie auch in Frankreich war fulminant. Gerade erhielten Sie den portugiesischen Literaturpreis Urbano Tavares Rodrigues für das Buch. Wie erklären Sie sich den Erfolg?
Ich hatte den Eindruck, dass dies der Moment war, über die Revolution zu schreiben, denn ihre Geschichte ist dabei, zum Mythos zu werden. Die Menschen vergessen, wie sie wirklich war. Ich wollte schreiben, um zu erinnern. Doch ich versetzte mich in diejenigen, die diese Zeit nicht miterlebt haben und die Revolution verzerrt wahrnehmen. Ich versuchte, eine Art Interpretin zwischen der Realität und dieser Verklärung zu sein. Ich glaube, deswegen hat das Buch auch die Leute erreicht. Viele Leser lassen sich durch das Buch begeistern, weil sie spüren, dass ich keine Historie, aber auch keine Lügen über sie schreibe.

Und was haben Sie geschrieben?
Ich habe eine Fantasie über diese Historie geschrieben. Meine Leser begriffen, dass es eine poetische Kreation ist, die sich um eine historische Realität bewegt, die ganz Europa kennt. Denn die Nelkenrevolution ist eine wichtige Referenz im europäischen Imaginario.

Diesbezüglich erwähnten Sie einmal »Die Helden des Rückzugs« von Hans-Magnus Enzensberger.
Der Held des Rückzugs leistet einen Beitrag in der Geschichte und zieht sich mit dem Bewusstsein zurück, nur seine Pflicht erfüllt zu haben. Dafür erwartet er keinen Dank. Auf die Nelkenrevolution übertragen, heißt das, dass sich die Mehrheit der ca. fünftausend Soldaten zwar an ihr beteiligte, dann aber verschwand. Sie sagten, »wir wollen einen friedlichen und zivilen Übergang, wir übergeben die Macht und gehen zurück nach Hause«. Es gibt einige, die auf Fotos wiedererkannt wurden, aber sehr viele verschwanden, und man weiß nichts über sie. Das ist es, was die jüngere Generation, nicht alle, aber viele nicht wissen. Sie wissen nicht, was diese Soldaten alles riskiert haben, für eine friedliche Revolution, für einen Regimewechsel, der ohne Blutvergießen stattfand. Sie können mir natürlich auch antworten, »es gab aber andere, die für sich einforderten, was sie nicht geleistet haben«. Ja, das gab es auch. Ich versuche in meinem Roman genau diese Aspekte darzustellen, sagen wir, einen Fächer zu öffnen für die vielen menschlichen Verhaltensweisen.

Wo steht Portugal heute?
In Portugal stellt erstmalig die Sozialistische Partei die Regierung mit parlamentarischer Unterstützung von zwei weiteren linken Parteien. Es sind spannende Momente, die wir gerade durchleben, denn diese Lösung steht im Gegensatz zur konservativen Politik in Brüssel und zum internationalen Finanzinteresse. Aber Portugal wagt, in einer Pionierarbeit, den Wechsel. Es stellt sich nun die Frage, ob Europa diesen Wechsel verstehen oder ob es uns bestrafen wird, indem es zu verhindern versucht, dass hier eine Alternative existiert. Diese ist anders als die griechische Lösung, aber mit der gleichen Notwendigkeit, die Kräfteverhältnisse zwischen den europäischen Partnern zu verändern. Im Augenblick zählt jede Sekunde. Wir erleben einen angespannten Moment, der einem den Atem raubt. Aber alleine das schon gibt Hoffnung.

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