Am Ende weinen auch die Helfer

Tränen der Angst und des Glücks fließen an der Küste von Lesbos jeden Tag

  • Fabian Köhler, Mytilini
  • Lesedauer: 6 Min.
Ob aus Barcelona, Flensburg oder Sussex - Dutzende Freiwillige sind an den Stränden im Norden der griechischen Insel im Einsatz, um Flüchtlingen zu helfen.

Das, was in Europa als Flüchtlingskrise gilt, ist zuerst nicht mehr als ein winziges orangefarbenes Flimmern im blauen Meer. Da hinten, könnte das nicht...? Dort, etwas links vom Schiff der Küstenwache, unterhalb der Moschee? Da, wo schon Asien ist, erheben sich an diesem Vormittag ein paar helle Kreise aus den blauen Wellenbergen. Im Fernglas von Guyestto formen sie sich langsam zu den Konturen von Menschen. Wenig später sind ihre verzweifelten Gesichter, das Winken der Armee erkennbar. Und schließlich auch die Tränen der Flüchtlinge.

Der 29-jährige Holländer Guyestto ist einer von Dutzenden freiwilligen Helfern auf der griechischen Insel Lesbos. Sie versuchen dafür zu sorgen, dass es Gesichter mit Freudentränen sind, die sich unten an der Küste gegen die Neoprenanzüge der Rettungsschwimmer pressen. Fast die gesamte 20 Kilometer lange Küste im Nordosten der Insel kann man von seinem Hügel aus sehen. »Wohlfühlinsel zum Wohlfühlpreis« wird Lesbos im Reiseprospekt beschrieben. Die Insel ist längst zum Symbol für Europas Versagen im Umgang mit den Flüchtlingen geworden. Und zu einem der vielen Schauplätze der Krise, in der sich hunderttausende Flüchtlinge in Europa befinden.

An den Stränden, an denen vor ein paar Wochen noch türkische und deutsche Urlauber lagen, stapeln sich Berge aus Schwimmwesten im Sand. Ein kleiner lilafarbener Bär ruht seinen Kopf auf einem Streifen Verbandszeug aus. Eine gelbe Puppe versteckt sich in einem Berg aus Schokoladenriegel-Verpackungen. Das Ufer ist übersät mit den Überresten jener schwarzen Gummiboote, die tausenden Menschen ein besseres Leben versprachen. Kilometerlang geht das so.

Wie viele Kinder er heute aus den Booten gehoben hat, weiß Oriol nicht mehr. Der 27-jährige Spanier ist einer der ehrenamtlichen Rettungsschwimmer auf der Insel. Er sitzt im Foyer von etwas, das einmal ein Hotel war. Nun ist es die Einsatzzentrale von »ProActiva Open Arms«. Jetskis stehen am Kiesstrand. Männer und Frauen in Neoprenanzügen laufen durch die Lobby. »Eigentlich arbeiten wir als professionelle Rettungsschwimmer an den Stränden von Barcelona«, erzählt Oriol. Als im September die Nachrichten voll waren mit Bildern von ertrinkenden Menschen, habe ihr Chef sie gefragt, ob sie bereit wären, auf Lesbos zu arbeiten. Ohne Bezahlung und in ihrer Urlaubszeit. »Wir haben alle Ja gesagt«, sagt Oriol.

Hunderte Menschenleben haben allein die spanischen Rettungsschwimmer gerettet. »Vor drei Wochen hatten wir gleichzeitig 300 Menschen im Wasser«, erinnert sich Oriol. Vier Stunden lang hätten sie mit ihren Jetskis halb erfrorene Menschen aus dem Meer gezogen, einen nach dem anderen. Am nächsten Morgen lagen dennoch dutzende Leichen an den Stränden. Mindestens 500 Menschen sind laut der »International Organisation of Migration« allein vor der Küste von Lesbos in diesem Jahr gestorben.

Woran werden sich Flüchtlinge einmal erinnern, wenn sie jemand nach ihrem ersten Eindruck von Europa fragt? An die Verzweiflung, die sie in den Stunden verspürten, die sie im schwarzen Nichts auf und ab über das Meer schaukelten? Vielleicht wird Europa für sie die Wärme sein, die nach einer durchnässten und eiskalten Nacht lediglich ein Lagerfeuer aus Schwimmwesten zu schenken vermochte. Für jene, die es nicht schafften, vergeht die erste Erinnerung an das leichte Schimmern von Europa am Horizont bereits kurz darauf zwischen schwarzen Wellenbergen. Wer Glück hat, erinnert sich vielleicht zuallererst an das Knistern der Rettungsdecke, die eine Frau mit Stirnlampe in jener Nacht um ihn oder sie wickelte.

Vielleicht erinnert er sich an Mika. »Früher irrten die Flüchtlinge oft stundenlang mit nassen Klamotten durch die Nacht«, erzählt die 25-jährige Holländerin. Sie steht hinter einem Tisch mit Marmeladenbroten, Wasserflaschen und Falafel-Bällchen. Sie ist eine der Freiwilligen im Camp »Oxi«. So heißt das größte von drei provisorischen Flüchtlingslagern entlang der Küste, die die beiden griechischen Orte Molyvos und Skala Sikamineas verbindet. Keines der Camps ist von lokalen Behörden genehmigt, geschweige denn von ihnen betrieben. »Wir haben Oxi einfach gebaut«, erzählt Mika. Die Nichtregierungsorganisation dazu entstand erst später. »Starfish« ist eine der größten von rund 20 Organisationen, die sich im Norden von Lesbos um die Flüchtlinge kümmern.

Neben der Holländerin Mika zieht der Mittvierziger Mick aus Tübingen mit seinen Händen eine Plane nach oben, die einmal das Dach für ein neues Zelt hergeben soll. Seine beiden Söhne hätten ihn mit auf die Insel genommen. Er sei zurzeit ohnehin arbeitslos. »Da dachte ich, ich helfe lieber Flüchtlingen, als zu Hause rumzusitzen«, sagt Mick. Seine Geschichte erleben auch rund 100 weitere Freiwillige, die auf Lesbos jenen Job machen, dem sich griechische und europäische Behörden verweigern.

Da ist Maria, die griechische Fitnesstrainerin, die ehrenamtlich Flüchtlinge vor dem Ertrinken rettet. Oder die 20-jährige Holländerin Fanny, die ihr Auslandsjahr nach der Schule an den Strand von Lesbos verlegt hat. Und Steve aus dem englischen Sussex, der mit einer Schubkarre und einem Haufen Kies versucht, den Boden unter den Zelten winterfest zu machen.

»Es geht ja nicht nur darum, dass die Behörden nichts machen. Sie behindern unsere Arbeit auch noch«, sagt der 22-jährige Jasper aus Flensburg, der seit drei Tagen ehrenamtlich bei »Starfish« mitmacht. Wochenlang bemühten sich das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) und das Internationale Rote Kreuz um die Genehmigung dafür, ein paar Zelte an der Küste aufstellen zu dürfen. Schließlich taten es Aktivisten einfach. Eine Gruppe freiwilliger griechischer Rettungsschwimmer darf nur auf dem Land retten. Die Küstenwache erlaubt ihnen nicht, auf das Meer hinauszufahren. Ein dringend benötigter Krankenwagen aus Schottland darf nicht benutzt werden, weil die Behörden den Antrag noch nicht bearbeitet haben. Bewohner der Insel, die Flüchtlinge in ihren Autos mitnehmen, mussten bis vor kurzem mit hohen Geldstrafen rechnen.

»Ich habe eine Ausbildung als Feuerwehrmann und Krankenpfleger. Ich mache alles, was gebraucht wird: das Auto hin- und herfahren, Schwangere und Kinder transportieren, aufs Meer starren«, sagt der Holländer Guyestto. Als die Sonne untergeht, verlässt er seinen Hügel mit Meeresblick. Der Weg hinab könnte einen guten Parcours für Offroad-Motorräder hergeben, lägen nicht auch hier überall die orangefarbenen Schwimmwesten am Straßenrand. Acht Kilometer ist die Türkei von hier entfernt, laut Google Maps. »Da kann man doch hinüberschwimmen«, sagt fast jeder, der zum ersten Mal an der Küste steht. 1500 Dollar fordert der türkische Schlepper und weist einen Platz im völlig überfüllten Gummiboot zu. 30 Euro nimmt der lokale Fähranbieter, aber nur für Menschen, die nicht auf der Flucht sind.

Es ist längst dunkel, als der Kleinbus der norwegischen Hilfsorganisation »Drop in the Ocean« zum nächsten Einsatz fährt. Im Scheinwerferlicht sind die müden Gesichter einer Gruppe afghanischer Flüchtlinge am Straßenrand zu erkennen. »Noch 15 Minuten in diese Richtung, dort bekommt ihr Essen und Kleidung«, ruft ihnen einer der Helfer zu. Auf dem Rücksitz des Autos erholen sich eine schwangere Frau und drei Kinder. Um auch die Männer zu fahren, reichen die Autos der Helfer nicht.

Ein paar Minuten später schimmert vom Meer her das schwache Licht von Handybildschirmen. Aus der Dunkelheit stottert ein Außenbordmotor an der mit Klebeband befestigten Pressspanplatte an einem Schlauchboot. Wieder rennen Männer und Frauen in Neoprenanzügen los, wieder geben Stirnlampen panische Gesichter preis. Zehn Minuten später haben die 30 bis 35 Boote dieses Tages Europa erreicht. Eine junge Frau schreit nach ihrem Sohn. Zwei Iraker küssen den Kies. Ein grauhaariger Syrer bricht weinend in der Böschung zusammen. Auf einem Felsbrocken sitzt eine Mutter mit ihren beiden Kindern in goldfarbenen Rettungsdecken. Und eine norwegische Helferin wischt ihre Tränen am Neoprenanzug eines Kollegen ab.

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