Fast alles verlangte er sich selbst ab

Zum Tod des Dirigenten Kurt Masur

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 7 Min.

Großer alter Mann, was hat dich geführt und wohin führtest du dich? Die persönliche und künstlerische Biografie des Kurt Masur quillt tatsächlich über vor Wegsetzungen. Das 20. war sein eigentliches Jahrhundert, voll mit Widersprüchen. Inmitten derselben ein Künstler, dessen Beruf ohne Kollektive nicht zu denken war und sowenig Grenzen kannte wie sein Gegenstand, die Musik.

Er werde im Juni mit dem Gewandhausorchester noch einmal nach Venedig fliegen, dann in Rio de Janeiro mit allen Beethoven-Sinfonien gastieren. Schließlich wieder vor heimischem Publikum in Leipzig dirigieren, berichtet er irgendwann in den 1970er Jahren. So tickt fortdauernd die Uhr in der Westentasche des Maestro. Und dergleichen ist nicht einmal tempo furioso. Während der ersten Spielzeiten (ab 1991/92) als Chef der New Yorker Philharmoniker und gleichzeitig des Leipziger Gewandhausorchesters, parallel gibt er weithin Gastdirigate, dürfte Kurt Masur mehr in Flugzeugen und Autos gesessen haben als auf dem Podium gestanden. Sein Pensum ist enorm, und blieb es. 1974 dirigiert er erstmalig in den USA (Dallas Symphony Orchestra). In Abständen folgen weitere Gastdirigate in US-Staaten. Nahezu alle europäischen Hauptstädte, Ost wie West, hat der Dirigent frequentiert. Die großen staatlichen Moskauer und Leningrader Klangkörper tun es ihm besonders an, deren homogener Klang allenthalben. Der Dirigent schenkt sich die Jahrzehnte hindurch nichts, vieles, wenn nicht alles verlangt er sich selbst ab. »Um uns selber müssen wir uns selber kümmern.« (Brecht) Und er dankt. Manchmal einen Akzent zu viel. Dankt jenen, die ihn angeregt, unterstützt, geschult, erheitert, gefördert, die seine Wahrnehmung durch ihre Kunst erweitert haben.

Ohne die Musik würde er kaputt gehen, bekannte Masur einmal. Kein makabrer Scherz. Wer sich in die Materie ein bisschen hineindenken kann, dem dürfte die ungeheure Produktivität des Mannes unverschleiert erscheinen. Im Herbst 1989, als Leipziger Bürger ihre »Wir sind das Volk«-Chöre skandieren, bekennt Masur, er hätte wohl in diesen Tagen den schönsten Beruf der Welt. Nationale Töne hallen bereits über den Karl-Marx-Platz und Bänder mit der Aufschrift »Künstler in die Produktion« machen am Bahnhof vorbei die Runde.

Die Bodenhaftung besteht von vornherein. Kurt Masur - er kommt ungeschoren durch den Krieg - stammt aus einfachen Verhältnissen, erlebt sie, vergisst sie nicht. Geboren wird er 1927 im schlesischen Brieg. Sein Vater ist Elektroingenieur und Inhaber eines Elektrofachgeschäfts. Der Sohn absolviert eine Ausbildung zum Elektriker. Zeitweise arbeitet Kurt in der Firma seines Vaters. Er habe viel Freude an praktischer Arbeit. Der musikalische Werdegang verläuft geordnet ungeordnet. Er erlernt das Klavierspiel, beginnt die ortsansässige Orgel zu traktieren. Während des Krieges ist er zwei Jahre Schüler an der Landesmusikschule Breslau in den Fächern Klavier und Violoncello. Mit 16 überrascht ihn die ärztliche Diagnose, dass sein rechter Finger nicht mehr streckbar ist, was die mögliche Pianistenkarriere verstellt. Weg frei für den Entschluss zu dirigieren. Nach kurzem Kriegsdienst studiert er an der Leipziger Mendelssohn-Akademie Klavier, Komposition und Orchesterleitung. Und er lernt die Theaterarbeit kennen und schätzen. Klar wird: Er gehört nicht zu den kometenhaften Aufsteigern, ist kein Genie von Kindesbeinen an, auch kein Wunderkind an irgendeinem Instrument. Er erlernt sein Handwerk von der Pike an.

Die Stationen seines Wirkens entsprechen nicht dem Stetigen, der geraden Linie. Von 1958 bis 1960 arbeitet Kurt Masur, inzwischen berufen zum Generalmusikdirektor, als Chefdirigent der Mecklenburgischen Staatskapelle Schwerin. Eine für ihn unverlierbare Periode des Lernens, des kollektiven Arbeitens. Sodann wird der Neugierige zu Beginn der 60er Jahre an die Komische Oper Berlin berufen, eine Hoffnung. Er schaut sich den dortigen Theaterbetrieb an, fängt Feuer und dirigiert Opernpartituren nach den Maßgaben des Musiktheaterrealisten Walter Felsenstein. Alsbald geht sein Traum in Erfüllung und er wird 1967 Chef der Dresdner Philharmonie, obgleich es anfangs schien, als würde er dort der geborene zweite Kapellmeister sein und bleiben.

1970 küren ihn maßgebliche DDR-Kulturstellen zum Leipziger Gewandhauskapellmeister. Über 26 Jahre übt Masur dieses Amt aus, wenige Spielzeiten in Doppelfunktion zugleich als Chef der Dresdner Philharmonie. An die 2000 Mal dirigiert er während dieser Zeit den Klangkörper in Leipzig und bei den vielen Gastspielen in der weiten Welt. Eine immense Leistung. Er lenkt die Geschicke, auch die Kümmernisse des Hauses sowohl als künstlerischer wie staatlicher Leiter. Unter seiner Ägide steigen beispielsweise in der Saison 1972/73 die Besucherzahlen um 50 Prozent an. Auf seine Anregung hin tritt der Gewandhauskinderchor ins Leben. Bald hat die Kapelle 200 Musiker, betraut mit parallelen Aufgaben der Oper Leipzig und des Gewandhauses. 1972 entsteht der große interpretatorische Wurf, die Eterna-Plattenaufnahme von Beethovens »Missa solemnis« in der Dresdner Lukaskirche mit ersten Solisten, dem Rundfunkchor Leipzig und dem Gewandhausorchester. Eine Produktion unter Masurs Leitung, heute so gültig wie ehedem, welche die allzu häufig überspielten, gekitteten Brüche der Beethovenschen Partitur hervorkehrt.

Freilich, der Musiker ist in Leipzig nicht nur umgeben von Freunden. Allerlei konservatives Gewächs achtet unablässig darauf, dass den Leuten ja nicht zu viele Noten über Brahms, Strauss und Fritz Geißler hinaus zugemutet würden. Masur sucht früh den Kontakt zu Komponisten, erteilt über die Jahre hinweg regelmäßig Kompositionsaufträge, dirigiert also auch Uraufführungen (Schenker, Henze, Bredemeyer, Schnittke, Thiele, Treibmann, Matthus u.a).

Mit dem Namen Masur unlöslich verknüpft ist ein Ereignis, dessen Strahlkraft bis heute fortwirkt: der Bau des Neuen Gewandhauses (Eröffnung 1981 unter Schirmherrschaft Erich Honeckers). Ein gesellschaftliches Ereignis von Rang, gekrönt durch die Aufführung der »Neunten« von Beethoven. Kurt Masur ist vorweg künstlerischer Begleiter und überdies kreativer Teil des Projekts nicht nur bei akustischen Problemstellungen des Saales (die aufs Glänzendste gelöst werden). Viele seiner Vorschläge finden Berücksichtigung.

Es brodelt im Herbst 1989 in Leipzig. Massen fordern eine freie, demokratische DDR. Kurt Masur stellt sich an die Spitze der Bewegung. Erstaunlich für einen Musiker: Von seiner Persönlichkeit geht eine breite Dialogbewegung aus. Volk nimmt das Wort, das ihm allzu oft beschnitten wurde, und der Dirigent ohne Taktstock treibt die Diskussion voran. Gleichzeitig wirft er seine ganze Person in die Waagschale, als bei den ersten Montagsdemos Leipzig Gefahr läuft, zum Prügelplatz zu werden. Am 9. Oktober, vor seinem abendlichen Dirigat im Neuen Gewandhaus, tritt er mit fünf weiteren Köpfen der Stadt dem Sicherheitsapparat entgegen und sorgt für Sicherheitsabsprachen. Zu keiner Zeit hat Kurt Masur in wesentlichen Dingen sich überreden oder ins Bockshorn jagen oder auf die falsche Fährte bringen lassen. Ob gegenüber Instanzen, Genossen, Chairmans oder Managern.

1991 wird er Chef der New Yorker Philharmoniker, was ihm fortan wirklichen Weltruhm einträgt. In dem Zusammenhang wird ihm dort irgendwann plötzlich nahegelegt, er solle von seinem Amt als Musikdirektor zurücktreten. Das ist für den Dirigenten die Höhe. Empört - und unterstützt durch die komplette Musikerschaft - weigert er sich und behält das Amt noch bis 2002 inne. Freund-Feind-Verhältnisse, da der Teufel, hier die lieben Engelein, will Masur nicht akzeptieren. Sein Wesen ist ausgleichend, er sucht viel lieber Fronten einzureißen. In Israel dirigiert er 1988 Programme als künstlerischer Botschafter der DDR im Interesse erster Schritte staatlicher Annäherung. Glücksfall: In New York scheinen die produktiven Tage mit den DDR-Neutönern nicht ganz vergessen. Er führt mit den Philharmonics Georg Katzers Komposition »Soundhouse« für Stimmen und Orchester mit elektronischen Klängen nach einer Vision von Francis Bacon auf.

Am Sonnabend ist Kurt Masur im Alter von 88 Jahren in einem Krankenhaus in Greenwich im US-Bundesstaat Connecticut gestorben. Großer alter Mann, was mag dich geführt haben und wohin hast du dich geführt? Dein Leben - wahrlich, es quillt über vor Wegsetzungen. Das 20. war dein eigentliches Jahrhundert. Da stürzten die Widersprüche über die Menschen wie die Dächer, wenn Orkan war, da erfüllte sich eine energische Suche, da fanden und kreuzten sich Wege über Klippen hinweg. Unzählig deine Begegnungen mit Musikervolk rund um den Globus. Schauen Sie. Da schreitet einer mit Frack und Lackschuhen, wie es dem Maestro geziemt, von Etappe zu Etappe, von Engagement zu Engagement, von Kontinent zu Kontinent. Im gegebenen geschichtlichen Moment stiftet er, überraschend genug, gesellschaftliche Debatten an. Wie, unter welchen Bedingungen lebt der Mensch, wie gedrückt und ängstlich ist er, in welchen Umständen kann er gelöst und frei sein? Eines dürfte seine Person mit Sicherheit erlangt haben, und zwar durch zähes Arbeiten: den Ruf, einer der Großen unter den modernen Dirigenten zu sein. Wird er so dem kulturellen Gedächtnis haften bleiben? Im Fortgang dieses höchst unsicheren, alle Kultur, alles Menschsein gefährdenden Weltenlaufs? Es bliebe zu hoffen.

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