Bouffier gerät in Bedrängnis

Hessens Regierungschef stoppte nach NSU-Mord offenbar persönlich Befragung von V-Leuten

  • Hans-Gerd Öfinger, Wiesbaden
  • Lesedauer: 3 Min.
Aussagen eines Ex-Chefs des hessischen Verfassungsschutzes vor dem NSU-Ausschuss zeigen neue Details zur Rolle, die der heutige Ministerpräsident Volker Bouffier bei den Ermittlungen gespielt hat.

Bei seiner letzten Sitzung im Jahr wird der hessische NSU-Untersuchungsausschuss am Montag vier Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) als Zeugen vernehmen. Davon erhoffen sich Parlamentarier Aufschluss über die Rolle des Inlandsgeheimdienstes im Zusammenhang mit dem mutmaßlich von den NSU-Mitgliedern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos verübten Mord an dem türkischstämmigen Kasseler Internetcafébetreiber Halit Yozgat im April 2006. Schließlich befand sich der damalige, in seinem Heimatort wegen seines rechten Hintergrunds als »kleiner Adolf« bekannte Verfassungsschutzmitarbeiter und gelernte Postbeamte Andreas Temme vor und während der Tatzeit am Tatort. Er stand 2006 zeitweilig unter Mordverdacht.

Am Freitag war der damalige LfV-Direktor Lutz Irrgang im Ausschuss aufgetreten. Der heute 74-Jährige war bis zu seiner Pensionierung Ende 2006 Behördenchef. Irrgang gab sich als gesundheitlich angeschlagener älterer Herr und zeigte bei der Befragung immer wieder Gedächtnislücken. Schließlich hätten ihn damals ein Überfall auf seine Privatwohnung und die Sicherheitslage vor der Fußball-WM erheblich beschäftigt. Zudem liege alles mehr als neun Jahre zurück. Er sei »bürgerlich sozialisiert« und empfinde es nach wie vor als »peinlich«, dass Temme mit seinem Verhalten »die gesamte Behörde, die vorher keine Probleme hatte, in ein schlechtes Licht gerückt« habe, so der Ex-Behördenchef. Temmes Erklärungsversuche für sein Verhalten habe er immer als »unbefriedigend« empfunden. Er habe im Amt einen handschriftlichen Vermerk hinterlassen und darin seine Zweifel ausgedrückt. »Das war mir wichtig als Hinterlassenschaft, denn mir war klar: Hier stimmt etwas nicht«, sagte Irrgang, der mit einzelnen Bemerkungen immer wieder Raunen auslöste.

Relevant für die Aufklärung möglichen Behördenversagens könnte Irrgangs Aussage über eine mündliche Vereinbarung sein, die er Mitte August 2006 mit dem damaligen Generalstaatsanwalt und dem leitenden Staatsanwalt in Kassel getroffen hatte. Dabei habe er im Zusammenhang mit den Mordermittlungen einer polizeilichen Vernehmung mehrerer von Temme geführter V-Leute des LfV zugestimmt. Im Gegenzug habe die Staatsanwaltschaft dem LfV Einblick in die Ermittlungsakten und zudem die Herausgabe von strafrechtlich nicht mehr benötigten Unterlagen zugesagt. Ende August 2006 sichteten auch Temmes damalige Vorgesetzte Iris Pilling, Leiterin der LfV-Abteilung Beschaffung, und der LfV-Geheimschutzbeauftragte Gerald Hess die Akten bei der Kasseler Staatsanwaltschaft. Die vereinbarte Befragung der V-Leute durch die Polizei fand jedoch auf Geheiß aus dem Wiesbadener Innenministerium nicht statt. »Ich hatte die Weisung, mich nicht mehr darum zu kümmern«, so Irrgang. Damit habe der Ex-Direktor bestätigt, dass der damalige Innenminister und heutige Regierungschef Volker Bouffier (CDU) »persönlich in die Ermittlungen eingegriffen hat«, so der Abgeordnete Hermann Schaus (LINKE). Diese Aussage Irrgangs widerspreche der bisherigen Annahme, dass Bouffier erst auf gezieltes Drängen des LfV die von Polizei und Staatsanwaltschaft geforderten polizeilichen Vernehmungen der V-Leute per Sperrerklärung verhindert habe, erklärte Schaus.

Temme sei »ein äußerst genauer, fast schon pingeliger Mitarbeiter« gewesen und habe 2006 bei der Regelbeurteilung »nicht die schlechteste Bewertung erhalten«, erklärte Iris Pilling vor dem Ausschuss. Dass sie ihn aber als »besten Mann« in der Kasseler Außenstelle bezeichnet habe, daran könne sie sich nicht erinnern, meinte die Dezernatsleiterin, die sich als fürsorgliche Vorgesetzte des V-Mann-Führers gab und ähnlich wie Irrgang einzelne Gedächtnislücken offenbarte. Die Beamtin bestätigte, dass sie mit dem vom Dienst suspendierten und von der Polizei observierten Temme in jenen Wochen mehrfach telefoniert und ihn konspirativ an einer Autobahnraststätte bei Kassel getroffen habe. Die Kasseler Dienststelle sei als Ort nicht in Frage gekommen und als in Nordhessen ortsunkundige Südhessin sei ihr kein anderer Treffpunkt eingefallen, beteuerte Pilling. »Ich habe mich menschlich bemüßigt gefühlt, ihm zu helfen und zu fragen, ob seine Familie noch hinter ihm steht«, sagte sie.

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