Besondere Requisitte

Der französische Schauspieler Michel Piccoli, ein wirklicher Star, wird 90

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Der diskrete Charme der Bourgeoisie: Keiner verkörperte ihn so verführerisch wie er. Faszination und Verfall einer egozentrischen Gediegenheit; Lockruf und Lasterlächeln einer saturierten Intelligenz; Adel und Aasgeruch der Freiheit. Die Verwandlungskraft eines wirklichen Stars: Ein eher grober, schlächtiger Typ wird auf der Leinwand zur Attraktion.

Wie er sich eine Zigarette anzündete, wie er an einen Tisch herantrat, wie er ein Glas hielt, wie er Flusskrebse angelte - jedes Mal ein Requisittengemälde unvergleichlicher Art. Und so, wie wirklich große Schauspielerinnen ihre Schönheit mit Liebe und Leidenschaft der Hässlichkeit ausliefern, so tat der Franzose Michel Piccoli stets alles dafür, den obligaten Charme zu ruinieren und ganz selbstverständlich aus der Perversität zu grüßen (»Trio infernal«, »Das große Fressen«, »Themroc«). Der Künstler, der sein Gesicht hält, indem er immer wieder mal versucht, es radikal ans Unerwartete zu verlieren. In Godards »Verachtung« hat er filmlang einen Hut auf: So zog er seinen Hut vorm hochverehrten Dean Martin.

Der Vater war Geiger, die Mutter Klavierlehrerin. Der ältere Bruder stirbt im Alter von sechs Jahren an Hirnhautentzündung. So etwas führt entweder in die Katastrophe oder in den Himmel - als würde der Tod die Lebenden beflügeln und ins Offene treiben.

Begonnen hat er auf der Bühne, in Kurzfilmen parodierte er US-Kinohelden. Dann der Glücksweg zu Buñuel: »Pesthauch des Dschungels«. Horror surrealistisch: Während einer langen Dschungelwanderung verfangen sich die Haare einer Taubstummen in den Lianen, werden eins mit ihnen. Eine Schlangenhaut scheint von Leben erfüllt durch die Ameisen, die in ihr herumwimmeln. Unvermittelt tauchen im Dschungel die nächtlichen Champs-Elysées im Lichterglanz auf, erstarren zur Photographie, die sogleich von Flammen verzehrt wird: eine Postkarte, von einem der Dschungelwanderer ins Feuer geworfen. Schreckensmomente der uralten Wahrheit: Uns beherrscht nicht die Fantasie, sondern die Angst vor dem, was sie an Bildern schafft.

Piccoli zunächst auf der Ochsentour des Nebenrollenjobs: Kommissare, Reporter, Nachtclubbesitzer, Zwischenhändler. Eine Gipfeltour zum Großbürger, dem wahren Philosophen über gewisse »Dinge des Lebens«, an der Seite von Romy Schneider (Regie: Claude Sautet). Vor einigen Jahren gab es ein Remake mit Richard Gere: Anschauungsmaterial über den Unterschied zwischen Frankreich und Hollywood. Und den Wandel der Zeiten. Piccoli verkörperte in vielen (guten!) Filmen, etwa von Chabrol und Ferreri, jene Kultur der Unentschiedenheit: Wird einem eine einzige Frau zu viel oder ist einem eine einzige Frau zu wenig? Da agierte kein Macho, ein Mann sehr wohl.

Wie er eine Geliebte heruntermacht (Susan Sarandon in »Atlantic City«), wie er seine Frau mit einem Kerl ertappt, sich in den Sessel setzt und statt der schreiwütenden Kriegserklärung einen Frieden herbeizuschweigen versucht (»Das gefährliche Spiel von Liebe und Ehrgeiz«) - das ist groß und bleibend.

Am 27. Dezember wird Michel Piccoli - auf der Bühne viele Jahre bevorzugter Spieler des jüngst verstorbenen Psychozauberers Luc Bondy - neunzig Jahre alt.

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