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Nachts im Bauch des Walfischs

Wie still ist Stille? Am Abend bietet der leere Kölner Dom eine besondere Geräuschkulisse

  • Christoph Driessen, Köln
  • Lesedauer: 6 Min.
Tagsüber wird der Kölner Dom von vielen tausend Menschen besucht, doch in der Nacht ist er leer. Auch ein Erlebnis: Je dunkler es ist und je weniger man vom Raum sieht, desto besser kann man ihn spüren.

Der goldene Schlüssel steckt schon, und langsam schließt sich die schwere Hauptpforte des Kölner Doms. »Hallo! Hallo!«, ruft eine ältere Dame. »Kann ich noch rein?« Domschweizer Wolfgang Volk, mit roter Robe und buschigem Schnauzbart eine auffallende Erscheinung, hält die Türe kurz fest. »Leider nein«, sagt der Türhüter. »Wir schließen für heute. Morgen um sechs sind wir wieder für Sie da.« Die Frau tritt noch einen Schritt vor: »Morgen bin ich nicht mehr da. Ich bin extra von weit her angereist.« Aufseher Volk bedauert: »Das ist schade, aber auch eine Kirche hat Öffnungszeiten.« Damit fällt die Türe ins Schloss.

Für Bettler Josef ist dies das Zeichen zum Aufstehen. »Wenn der Dom zu ist, ist für mich Schicht«, sagt der Mann. Jeden Tag sitzt er von 17 Uhr bis 19.30 Uhr am Hauptportal vor einem Kaffeebecher und einer brennenden Kerze. »Die brauch ich, damit die Leute mich nicht übersehen in der Menschenmasse. Man muss sich bemerkbar machen.« Der Dezember ist eine vergleichsweise gute Zeit für ihn: »Weihnachten - da geben die Leute noch am ehesten. Je weiter es aufs Fest zugeht, desto mehr. Ich habe keine Wohnung, ich brauche das Geld, um eine Unterkunft zu bezahlen.«

Im Dom hat sich derweil ein verblüffender Effekt eingestellt: Es ist, als hätte man den Ton abgedreht. Das Rauschen des Verkehrs, die Schritte und das Gemurmel der Passanten, die Lautsprechermusik des benachbarten Weihnachtsmarktes - alles ist weg. Stille, zunächst jedenfalls. »Gänsehaut pur« empfindet in diesen Augenblicken der Architekt Jörg Sperner von der Dombauhütte. Er bietet zweimal im Monat abendliche Führungen durch den Dom an, aber an diesem Abend ist er allein. »Da kann ich den Dom nochmal ganz anders auf mich wirken lassen.« Dompropst Gerd Bachner - der Hausherr der Kathedrale - findet: »Jetzt fühlt man sich hier wie auf einem anderen Stern.«

Dumpf und feierlich beginnt im Südturm der Dicke Pitter zu läuten, die größte frei schwingende Glocke der Welt. Es heißt, dass ihr unverkennbar tragend-melancholischer Ton jeden richtigen Kölner sofort innehalten lässt. Wolfgang Volk ist erleichtert: »Darüber, dass ich den Dienst gut verrichtet habe. Acht Stunden sind ja nicht nichts.« Jeden Tag wird der Dom immerhin von bis zu 20 000 Menschen besucht, schätzungsweise sechs Millionen sind es im Jahr.

Volk verabschiedet sich, der Nachtdienst übernimmt. Das ist heute Franz-Jochem Henk (58), auch er ist Domschweizer. Zu den wichtigsten Aufgaben gehört jetzt das Abräumen der vielen hundert Kerzen, die im Laufe des Tages im Dom angezündet worden sind, oft verknüpft mit Hoffnungen, Wünschen und Gebeten.

Jede Stunde dreht der Nachtdienst seine Sicherheitsrunde. In der großen Stille wirkt jedes Geräusch überlaut. »Überall knackt es«, erzählt Henk. »So viele Geräusche habe ich noch nie zuvor gehört. Wenn man nachts allein hier durchgeht, dann ist das doch auch unheimlich.« Das Knacken kommt vom Holz. »Holz arbeitet ja. Ich habe einen großen alten Wohnzimmerschrank, der knackt auch so.«

Der Dicke Pitter hat nun aufgehört zu läuten. Wie riesige Baumstämme ragen die Säulen in die Höhe, und die Kreuzrippen unter dem Gewölbe wirken wie ausladende Äste eines Urwalddachs. Plötzlich ein schepperndes Geräusch: Es ist der Schlag einer alten Uhr. Tagsüber im Gedränge der vielen tausend Besucher hört man sie nicht. Jetzt ist sie geradezu ohrenbetäubend. »Ich habe mal eine Nachtführung gemacht, während es draußen geregnet hat«, erzählt Sperner. »Und da war ein Geräusch, das ich noch nie gehört hatte. Es dauerte etwas, bis mir klar wurde: Das ist der Regen, der auf die 10 000 Quadratmeter Fensterfläche trommelt. Es hörte sich an, wie wenn man die Dusche aufdreht und das Wasser gegen den Duschvorhang prasselt.«

Man kann jetzt auch ganz leise sprechen und wird doch mühelos verstanden. Jedes Husten hallt unangenehm laut von den Wänden wider. Und im Chor, dem ältesten Teil der Kathedrale, hat man den Eindruck, als laufe ein Film mit falschem Ton: Man sieht das größte Chorgestühl des Mittelalters und die prunkvollen Grabmäler der Erzbischöfe - und hört dazu Durchsagen der Deutschen Bahn und das Quietschen haltender Züge. Denn die vordersten Bahnsteige des Hauptbahnhofs sind von hier aus nur wenige Meter entfernt.

Jetzt sind Schritte zu hören - Domorganist Winfried Bönig kommt. Er übt regelmäßig nachts, wenn er hier ganz allein ist: »Man ist dann viel konzentrierter, weil die Geräusche weg sind. Der Raum bringt einen dazu, völlig für sich zu sein.«

Der Dom, so sagt er, »ist jetzt völlig anders als am Tag: durch die Ruhe und die Größe«. Die Größe des Doms werde erst bei Nacht wirklich erfahrbar: »Je dunkler es ist und je weniger man vom Raum sieht, desto besser kann man ihn spüren. Durch den Klang.« Mehrmals schon hat er erlebt, dass blinde Zuhörer nach ihrem ersten Konzert im Dom auf ihn zukamen und erzählten, jetzt hätten sie zum ersten Mal eine Vorstellung davon, wie groß diese Kirche wirklich sei.

Unwohl fühlt sich Bönig so allein in der Finsternis nicht: »Der Dom ist ein ruhender Walfisch, er beschützt einen. Man spielt hier tief in seinem Bauch angenehm behütet.« Am liebsten hat er es, wenn nur die kleine Pultbeleuchtung seiner Orgel hoch auf der Empore angeschaltet ist - und sonst um ihn herum tiefe Dunkelheit herrscht. Dann legt er los und füllt den riesigen Raum mit Musik. Mal scheint der tiefe Bass die Fenster regelrecht erzittern zu lassen, mal zirpt von ganz weit oben hoch und dünn die wehmütige Oberstimme. Es hört sich anders an als bei einem Konzert in der voll besetzten Kathedrale - die Menschen verändern die Akustik. Der leere Dom hat seinen eigenen Klang.

Nach ein paar Stunden zieht einem die Kälte in die Füße, auch wenn man dicke Strümpfe trägt. »So richtig ungemütlich wird es Ende Januar, Anfang Februar«, sagt Bönig. »Wenn es schon zwei Monate kalt gewesen ist und der Stein so richtig ausgekühlt ist. Dann braucht man nach einer Stunde mindestens 'nen heißen Kaffee.«

Propst Bachner hat festgestellt, dass man nach einiger Zeit im nächtlichen Dom langsamer geht, leiser spricht und gelassener wird. Architekt Sperner bestätigt: »Ich bin jetzt ganz ruhig, ganz entspannt. Und genau das ist es eben: Das macht er mit einem in der Nacht, dieser Dom.« dpa/nd

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