Warum blieb der Protest aus?

Werner Röhr begab sich auf die Spuren einer deutschen Legende und der Revision eines kritischen Geschichtsbildes

  • Kurt Pätzold
  • Lesedauer: 3 Min.

Mitten im Frieden überfällt uns der Feind«, teilte der deutsche Kaiser Wilhelm II. am Tage des Beginns des Ersten Weltkrieges seinen Untertannen mit. Und sein Berufskollege Franz Josef, nunmehriger Kriegsgenosse, versicherte seinen Österreichern, sein größter, jetzt jedoch zerstörter Wunsch sei gewesen, sein Leben in Frieden zu beenden. Mit diesen Lügen aus hochadligem Munde war die Geschichte der verfälschenden Darstellung des Weges in den Krieg eröffnet. Weder an der Spree noch an der Donau hatte es demnach hochgestellte und einflussreiche Zivil- oder Militärpersonen gegeben, die einen Krieg wollten oder gar machtpolitische und räuberische Kriegsziele verfolgten. Für ihre Art und Weise, in den Krieg gelangt zu sein, wurde das Bild »hineinschlittern« erfunden. Ein Jahrhundert später hieß es, sie seien in das mörderische Unternehmen schlafwandelnd geraten. Das verstärkt die Grundaussage, denn Somnambulisten, wie der Fachausdruck für nächtliche Spaziergänger lautet, sind nach medizinischem Urteil in der Regel nicht aggressiv. Entdecker der neuen These ist ein Brite, Christopher Clark; deutschen Medien schien mit ihm ein neuer Geschichtsstern aufgegangen.

Wer konnte und kann an einem solchem Persilschein interessiert sein? Die wenigen leiblichen Nachkommen der einstigen Akteure? Oder die Politiker, die heute wieder deutsche Soldaten in Kriegsgebiete entsenden? Warum sind die Deutschen nicht bei ihrer - mühsam errungenen - kritischen Sicht in ihre Vergangenheit geblieben? Antwort auf diese Fragen gibt die Monografie von Werner Röhr. Schritt für Schritt begab sich der Berliner Weltkriegsforscher auf die Spur einer deutschen Legende, ein unfröhliches Unternehmen.

Die Historiker, die den Krieg von Anbeginn gefeierten hatten, waren auch diejenigen, die in der Weimarer Republik sich und die deutsche Politik zu rechfertigen und Deutschlands Kriegsunschuld nachzuweisen trachteten - wofür der Staat erhebliche Summen auswarf. Gegen diese Phalanx und ihre Mittel hatten Aufklärer wie Kurt Eisner, Karl Kaustsky, Arthur Rosenberg und auch die in der Tradition von Lenin, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg stehenden wenig Chancen.

In den zwölf Nazijahren brauchte sich Röhr nicht lange aufzuhalten. Hitler hatte in »Mein Kampf« postuliert, dass Deutschland Opfer einer Weltkoalition geworden sei, während seine Regierung angeblich auf die Erhaltung des Weltfriedens mit allen Mitteln gesetzt hätte. Dann, als der »Führer« passé war, setzten konservative Historiker in Westdeutschland die Pflege der Fälschung von Deutschlands Kriegsunschuld fort. In Ostdeutschland kamen jene zu Wort, die an die Tradition der kritischen Minderheit aus Weimarer Jahren anknüpften und sie um eigene Forschungen anreicherten. Zum Bruch kam es in der Bundesrepublik 1961 - vollzogen von einem, dessen Schild in Nazijahren nicht unbefleckt war, der sich aber zu einem neuen Verhältnis zu Deutschlands Vergangenheit durchgerungen hatte. Diese Trennung trug Fritz Fischer die erbitterte Anfeindung der Kollegen ein. Das wird von Röhr exakt rekonstruiert, zugleich der Fortschritt in der Kriegsgeschichte gewürdigt, die sich nun der Gesellschaft im Kriege zuwandte und sich nicht länger an Schlachten ergötzte. Röhr erinnert hier auch an Jürgen Kuczynskis Beitrag zur Vorgeschichte des Krieges und die dogmatische Kritik, die jener sich damals einhandelte.

Nach Durchmusterung der Konjunktur in der Weltkriegsforschung ab 1990 kommt der Autor zum Gedenkboom im 100. Jahr des Weltkriegsbeginns. Der Polemik wider die Revisionisten, aus denen Clarks Sancho Pansa, der Berliner Soziologieprofessor Herfried Münkler, herausragt, folgt die Frage, warum ein Proteststurm der Geschichtswissenschaftler ausblieb.

Werner Röhr: Hundert Jahre deutsche Kriegsschulddebatte. VSA-Verlag, Hamburg. 295 S., br., 24,80 €.

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