Ratlos vor der digitalen Revolution

Viele Beiträge zur Big-Data-Gesellschaft kommen zu unpolitisch daher, meint Wolfgang M. Schmitt

  • Wolfgang M. Schmitt
  • Lesedauer: 6 Min.

Der technische Fortschritt schreitet mit einer Geschwindigkeit voran, die viele überfordert. Ob in der Wirklichkeit oder in der Fiktion. In »Skyfall«, dem vorletzten Bond-Film, flieht der Doppelnullagent zusammen mit M, der Chefin des Geheimdienstes MI6, vor der totalen digitalen Überwachung hinaus aufs Land in ein schottisches Herrenhaus. Zuvor hielt M vor Gericht ein flammendes Plädoyer für das Geheimnis und verwarf die von der Digitalisierung geprägte Politik der liberalen Regierung, die auf die Schaffung einer Transparenzgesellschaft zielt. Da heute bereits jedes Auto vernetzt und somit überwachbar ist, fahren Bond und M in dem alten Aston Martin, der schon 1964 in »Goldfinger« zum Einsatz kam, ins schottische Hochland. Dort können beide aus der Zeit gefallene Figuren noch als souveräne Subjekte agieren. Bond, der dank Q stets mit den neuesten technischen Gadgets ausgestattet war, wird erstmals zu einem Fortschrittsverweigerer und tut das, wonach sich viele heute sehnen - er zieht sich in die Provinz zurück.

Vielleicht, so könnte man meinen, hat auch er einige der vielen Provinzromane gelesen, die seit ein paar Jahren reißenden Absatz finden. Robert Seethalers »Ein ganzes Leben«, Dörte Hansens »Altes Land«, Saša Stanišićs »Das Fest«, Fabian Hischmanns »Am Ende schmeißen wir mit Gold« - die Liste der deutschsprachigen Gegenwartsromane, die vom Leben auf dem Land erzählen, könnte man beinahe endlos fortsetzen. Sie alle spielen - mal mehr oder weniger literarisch gekonnt - mit der Fantasie, dass fernab vom Lärm der Metropolen die Welt noch in Ordnung sei. Nicht nur im Sinne eines Spießertums aus selbst Gebackenem, Gehäkeltem und Gewerkeltem, sondern auch im Sinne einer politischen Ordnung, die noch übersichtlich zu sein scheint. Eine solche Fluchtbewegung vor den Herausforderungen der Gegenwart unternimmt auch Walter, der Antiheld aus Ralph Dohrmanns Roman »Eine Art Paradies.« Walter lebt ohne Handy und Internet abgeschieden auf einem Dorf. Angestoßen durch die Begegnung mit einer unbekannten Frau jedoch, wird der eigenbrötlerische Walter in die digitale Welt zurückkatapultiert, als seine Freunde via Onlinekontaktanzeige nach der Unbekannten fahnden. Die schlichte Moral dieser umständlich erzählten Geschichte lautet: Man kann sich dem Netz nicht mehr entziehen. Zum Thema Digitalisierung hat der Roman nichts von Belang beizutragen. Die aufklärerisch gemeinten Dialoge lesen sich wie oberflächliche Zusammenfassungen der Debatten der letzten Jahre über die Macht der Geheimdienste, Edward Snowdens Enthüllungen und eine smartphonesüchtige Generation.

Das verbindet »Eine Art Paradies« wiederum mit den beiden Weltbestsellern über die Vernetzung: Sowohl »Unschuld« von Jonathan Franzen als auch »The Circle« von Dave Eggers sind zu sehr im Stile des Kolportageromans mit holzschnittartigen Figuren und oberflächlichen Dialogen verfasst und werden so der überaus komplexen Thematik nicht gerecht. Gute Debattenbeiträge leisten diese Romane nicht: Eggers verfällt dem Fatalismus und Franzen verkennt die eigentliche Problematik der Überwachung völlig, sodass am Ende ein Whistleblower für gefährlicher gehalten wird als die NSA oder das gesamte Silicon Valley zusammen.

Beide Romane wollen sich in die öffentliche Debatte einmischen, bleiben dabei aber - jeder auf seine Weise - unpolitisch. Eggers entwirft zwar ein dystopisches Szenario der völligen Ausbeutung, indem er die berühmten Vorbilder »Schöne neue Welt« von Aldous Huxley und »1984« von George Orwell miteinander kreuzt, jedoch tut er dies so übertrieben, dass man als Leser nur zwei Möglichkeiten hat, auf diesen Text zu reagieren. Entweder man denkt, es sei nur Fiktion und betreffe einen selbst überhaupt nicht oder man schenkt der Vision glauben und muss einsehen, dass alles ganz schlimm werden wird und politisches Engagement gegen die Beschneidung von Bürgerrechten und gegen die Macht der Internetkonzerne gänzlich aussichtslos ist. Franzen wiederum entpolitisiert durch (Küchen-)Psychologisierung. Anstatt eine systemische Kritik an der Macht der Geheimdienste und des Silicon Valley zu artikulieren, zeichnet er lieber das Bild eines egomanischen und herrschsüchtigen Whistleblowers mit Bindungsproblemen.

Offenbar ratlos wie Bond stehen die Schriftsteller vor der digitalen Revolution, die der Informationstheoretiker Luciano Floridi als die vierte - nach der kopernikanischen, darwinschen und freudschen - bezeichnet. Nachdem der Mensch sich daran gewöhnt hat, nicht der Mittelpunkt des Universums und bloß das Ergebnis eines evolutionären Prozesses und überdies nicht Herr im eigenen Hause zu sein, definiert der digitale Fortschritt den Menschen nun als »Inforg«. »Die vierte Revolution hat ans Licht gebracht, dass der Mensch seiner Natur nach ein mit einer informationellen Identität ausgestattetes Wesen ist. Das ist eine demütigende Tatsache, weil wir darin einigen der smartesten der von uns selbst hervorgebrachten Dinge gleichen«, schreibt Floridi in seinem Sachbuch »Die 4. Revolution. Wie die Infosphäre unser Leben verändert«.

Floridi, der als Professor für Philosophie und Ethik der Information in Oxford lehrt, geht es nicht darum, zukünftige transhumanistische Visionen von Cyborgs zu entwerfen, vielmehr will er aufzeigen, wie bereits heute durch Big Data der Mensch neu bestimmt wird. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit konnten so viele Daten produziert, gesammelt und verwertet werden. Und das ist erst der Anfang. Darauf, so Floridi, müsse die philosophische Anthropologie reagieren. Thesenstark wie Eggers und Franzen schreibt auch Floridi und ebenso kaschiert auch er seine eigene Ratlosigkeit. »Die 4. Revolution« sei ein philosophisches Buch, heißt es zu Beginn, doch philosophisch ausgereifte Gedanken sucht man vergebens, da Floridi mit allerlei Begriffen jongliert, diese jedoch weder definiert noch präzisiert, und sie dann unversehens wieder fallen lässt. Mögen die Kapitel zwar mit »Zeit«, »Raum« oder »Identität« überschrieben sein - darin schwadroniert der Eliteprofessor viel lieber über wissenschaftliche Gemeinplätze, erzählt ein paar nette Philosophieanekdoten und sorgt mit beliebigen Argumentationsketten dafür, dass man schließlich lediglich die Quintessenz behält: Ja, die Technik hat eben Vor- und ein paar wenige Nachteile.

Über die Schattenseiten der Informations- und Kommunikationstechnologien schweigt sich Floridi aus. Die oligarchische Herrschaft des Silicon Valley, die Ausspähung der Bürger und die kapitalistische Ausbeutung 2.0 scheinen kein Problem zu sein und so wundert es auch nicht, dass das Kapitel zur Politik im digitalen Zeitalter vor allem einer Entpolitisierung das Wort redet. Sogenannte Multiakteurssysteme würden sich zukünftig gegenseitig austarieren - bei Bedarf auch demokratisch. Für politische Ideale ist kein Platz, es regiert der Pragmatismus. Auch Floridis Bildungsbegriff ist rein positivistisch. Bildung ist gleich Wissen, das nun anders, schneller und besser aufgenommen und verarbeitet werden kann.

Wie Dohrmanns Roman vermittelt auch Floridis Sachbuch immerhin aber die Erkenntnis, dass man sich vor der Gegenwart nicht verstecken kann. Auch im aktuellen James-Bond-Film ist diese Botschaft angekommen: In »Spectre« arbeitet Bond enger denn je mit Q zusammen und trickst mit ihm das System der totalen Überwachung aus. Der Film zeigt dabei, wie Wirtschaft, Politik und Geheimdienste gemeinsame Sache machen. Bond und Q bekämpfen nicht mehr ein anderes System (jahrzehntelang war es die Sowjetunion), sondern sie leisten Widerstand im eigenen Unrechtssystem und sind damit wesentlich weiter als all die Literaten und Theoretiker, die mit ihrer Ratlosigkeit viele Buchseiten füllen.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik an der Universität Trier. Im Internet betreibt er den Videoblog »Die Filmanalyse«, der sich ideologiekritisch mit dem Blockbusterkino auseinandersetzt.

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