Staats- und Rechtlosigkeit

Timothy Snyder warnt, dass der Holocaust sich wiederholen kann

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Jede Generation schreibt ihre eigene Erzählung der großen historischen Ereignisse. Der 1969 geborene Timothy Snyder, Professor für Geschichte an der Yale University, zieht aus dem Verlauf des Holocaust Schlüsse, die ihn zu einer neuen Bewertung des singulären Völkermords an den Juden Europas führen. Der Titel seines teils als klassische Historiographie, teils als Großessay verfassten Buches »Black Earth« greift die fruchtbare Schwarzerde der Ukraine auf, die Hitler und Konsorten nicht nur eine Metapher, sondern konkretes Eroberungsziel war.

Im Mittelpunkt von Snyders Untersuchung steht die millionenfache Ermordung der Juden in den osteuropäischen »Bloodlands« (so der Titel seiner letzten Veröffentlichung). Vor allem in den besetzten Gebieten der Sowjetunion ermordeten deutsche Soldaten und Polizisten lange vor der Wannsee-Konferenz Millionen von Menschen, weil sie angeblich einer minderwertigen »Rasse« angehörten, deren Ausrottung Hitler zum Programm erhoben hatte. Die Darstellung dieser ersten, blutigsten Phase des Holocaust führt Snyder zu einem in der bisherigen Forschung kaum beachteten Phänomen: die bewusste Zerschlagung aller staatlichen Strukturen in den eroberten Gebieten Ostpolens, der ehemaligen Sowjetunion, des Baltikums und vor allem der Ukraine. Snyder spricht von staatslosen, völlig rechtlosen Zuständen. Die Aufhebung aller Strukturen habe dort - und das belegt er mit erschreckendem Zahlenmaterial - zu einer vollständigeren Ermordung der Juden als in anderen von der Wehrmacht eroberten Gebieten geführt, in denen Reste staatlicher Organisation erhalten blieben. Dieses Resümee ist eher eine These als ein endgültiges Urteil. Die Forschung wird sich ihr zuwenden müssen. Denn sie erweist sich als folgenschwer auch für die Beurteilung heutigen Geschehens.

Snyder vergleicht die Folgen der Zerschlagung staatlicher Strukturen durch die Nazis mit der vollkommenen Auflösung des Staates in Irak durch die US-Truppen 2003 und der andauernden »Staatslosigkeit«, welche die Gründung und den Vormarsch des IS begünstigte und die Flüchtlingsströme auslöse. Die Motive seien damals wie jetzt grundverschieden, die Ergebnisse jedoch in gewisser Weise ähnlich katastrophal. Möglichkeiten künftiger »Wiederholungen« des Holocaust sieht Snyder aber auch im Gefolge von Klimaveränderungen und daraus resultierender Nahrungsmittelknappheit.

Den Kern seines Buches macht aber der immer wieder zu erinnernde Judenmord der Nazis in Osteuropa aus. Snyder ruft bekannte Details wie die Erschießung von über 33 000 Juden an der Schlucht von Babi Yar in Kiew und weniger bekannte Pogrome und Massaker in Erinnerung. Er beschreibt die Judenverfolgung auch in den mit Hitlerdeutschland verbündeten Staaten und streift die engherzige Einwanderungspolitik der Westmächte und der USA seinerzeit, erzählt von Opfern und Rettern, von Kollaboration und Tragödie.

»Den Holocaust zu verstehen ist unsere Chance, vielleicht unsere letzte, um Menschheit und Menschlichkeit zu bewahren«, betont Snyder und erläutert: »Wenn wir glauben, der Holocaust sei die Folge der angeborenen Merkmale von Juden, Deutschen, Polen, Litauern, Ukrainern oder irgendjemandem sonst, dann befinden wir uns inmitten von Hitlers Welt.« Die Parallelen zu den schriller werdenden Tönen in der aktuellen Flüchtlingsdiskussion sind offensichtlich.

Timothy Snyder: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. A. d. Engl. von Ulla Höber, Karl Heinz Siber und Andreas Wirthensohn. C.H.Beck, München. 488 S., br., 29,95 €.

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