»Am Kotti ist Köln jeden Tag«

Mitten in Berlin-Kreuzberg habe sich ein rechtsfreier Raum etabliert, beklagen Geschäftstreibende

  • Nicolas Šustr und Martin Kröger
  • Lesedauer: 4 Min.
Gewalt, Raub und Diebstähle sowie Drogenhandel. Am Kottbusser Tor explodiert die Kriminalität, das zeigen Zahlen, die »nd« vorliegen. Anwohner und Gewerbetreibende suchen nach Gegenstrategien.

Plötzlich ertönen vor dem »Café Kotti« Schreie. »Verräter« und »Hurensohn« brüllt ein junger Mann auf Arabisch. Drinnen im Café springt Ercan Yasaroglu auf, der türkische Sozialarbeiter und Betreiber der Lokalität rennt nach draußen, wo der Schreihals dabei ist, sich mit einem Stuhl zu bewaffnen. Für einen Moment sieht es so aus, als wenn er die Sitzgelegenheit in die Scheibe werfen will. Dadurch, das sich aber weitere Gäste des Sozialtreffpunkts auf den Aggressor zu bewegen, wird die Situation entschärft. Schimpfend zieht sich der junge Mann von der Terrasse, die sich vor dem Betonriegel des Neuen Kreuzberger Zentrums spannt, auf den Vorplatz mit seinen U-Bahn-Eingängen zurück.

So glimpflich gehen die Konflikte am Kottbusser Tor in Kreuzberg derzeit nicht immer aus. »Jeden Tag haben wir Gewaltopfer, Messerstechereien, homophobe oder sexuelle Übergriffe«, sagt Yasaroglu. Und: »Am Kotti ist Köln jeden Tag.« Gemeint sind die Übergriffe in der Silvesternacht in der Rheinmetropole, die bundesweit Debatten auslösten. Yasaroglu, der selbst als linker Anfang der 80er Jahre vor der Militärdiktatur aus der Türkei über den Libanon nach Berlin geflüchtet ist, kritisiert die Eskalation im Herzen des Multikultibezirks scharf. Aus seiner Perspektive geht die Steigerung der Kriminalität auf falsch verstandene Toleranz der linken Kreuzberger Anwohner und die Ignoranz von Politik und Polizei zurück. Ideologisch werde tabuisiert, behauptet Yasaroglu. Sowohl die Behörden als auch die Kiezanwohner würden wegschauen, wie sich seit mehr als einem Jahr eine Gruppe von bis zu 30 Personen aus Libyen, Marokko und Algerien am »Kotti«, wie der Platz im Kiez heißt, die »Machtfrage« stellt. In dieser angeblich organisierten Bande, die klauen, verprügeln und rauben soll, so will es Yasaroglu bei Gesprächen erfahren haben, seien Ex-Söldner des getöteten libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi dabei. Daraus erkläre sich die hohe Gewaltbereitschaft. Nach den zweiten islamistischen Anschlägen in Paris soll die Gruppe gar »Freudentänze« am Kottbusser Tor aufgeführt haben.
Die Gewerbetreibenden am »Kotti« treffen sich jeden Freitag in einer Runde und suchen nach Gegenstrategien. In Offenen Briefen haben sie sich an die Verwaltung von Innensenator Frank Henkel (CDU) und die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann (Grüne), gewandt. Das hat indes wenig gebracht.

Die Clubs und Kneipen rund ums Kottbusser Tor reagierten auf die Diebstähle mit Türstehern und einer Sensibilisierung der Kunden für die Problematik. In der Bar »Möbel Olfe«, sieht man die Situation pragmatischer als im »Café Kotti«. »Es ist halt die Globalisierung, dass hier alles zusammenkommt«, sagt Mitinhaber Richard Stein. Es stelle sich die Frage, was wir daraus machen. Einen Kulturkampf abzuleiten, helfe nicht weiter. »Ich habe Freunde mit arabischem Hintergrund, die werden in dem Haus, in dem sie wohnen, im Fahrstuhl schräg angeguckt«, sagt Stein. Er glaubt, dass die Debatte um den »Kotti« und Köln dafür ursächlich sind. Dass es ein Problem gibt, will aber auch Stein nicht abstreiten: Natürlich gebe es Menschen, die aus Angst einen anderen U-Bahn-Ausgang nutzen, auch in der »Olfe« gab es vor kurzem eine Jugendgruppe, die als »pubertäre Mutprobe« Eindruck schinden wollten. Mit Anzeigen erreiche man die aber nicht, sagt Stein.

Wie hoch die Dunkelziffer der Übergriffe am Kottbusser Tor ist, kann niemand sagen. Fakt ist, dass die lapidare Antwort der Innenbehörden aus dem Sommer 2015 auf den Brief der Gewerbetreibenden nicht mehr haltbar ist. Noch Ende vergangenen Juli ließ Henkels Verwaltung einen Geschäftstreibenden wissen: »Entgegen Ihrem subjektiven Empfinden wurde durch die Polizei Berlin weder eine signifikante Steigerung der festgestellten Straftaten noch die von Ihnen beschriebene Aggressivität der Drogenhändler, das Bedrohen von Gewerbetreibenden und Beschimpfen von Passanten registriert.«
Wie eine aktuelle Anfrage des »neuen deutschland« bei der Polizei ergab, gab es aber sehr wohl signifikante Steigerungen: »Im Jahr 2015 stiegen die Fallzahlen der Gewalt-, Diebstahls-, Raubdelikte und der Betäubungsmittelkriminalität gegenüber dem Vorjahr an. Hier fallen beim Taschendiebstahl eine Steigerung von 370 Anzeigen im Jahr 2014 auf 763 Taten im Folgejahr, bei der Körperverletzung im öffentlichen Raum eine Steigerung von 49 Delikten im Jahr 2014 auf 68 Taten für 2015 und bei den Raubdelikten eine Steigerung von 51 Taten auf 79 Straftaten im Jahr 2015 auf«, erklärt Polizeisprecher Stefan Redlich. Für 2016 sei es für belastbare Aussagen zu früh. Bei den Tatverdächtigen fällt auch der Polizei eine »Zunahme« aus »nordwestafrikanischen Staaten« auf. »Es liegen aktuell Erkenntnisse vor, dass sich aus Gruppen heraus drei bis fünf Täter gezielt potenziellen Opfern nähern und diese gemeinschaftlich, insbesondere durch sogenanntes ›Antanzen‹ von dem Diebstahl der mitgeführten Wertgegenstände ablenken«, sagt der Polizeisprecher. Einen »rechtsfreien Raum« lasse die Polizei nicht zu. Das Gegenteil sei der Fall: Die Polizei habe die Präsenz deutlich erhöht.

Ob die erhöhte Polizeipräsenz und die von CDU-Innensenator Frank Henkel angekündigte »Task Force« die Gemüter beruhigt, wird sich zeigen. Am 10. März soll es im Kreuzberg Museum eine Kiezversammlung zur Situation am »Kotti« geben. Da dürfte es einiges zu bereden geben.

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