Die Chance von Lesbos ergreifen

Leila Dregger zur Bedeutung der Flüchtlingshilfe auf den griechischen Inseln für ein Ende von Krieg und Unmenschlichkeit

  • Leila Dregger
  • Lesedauer: 4 Min.

Man hat uns freiwillige Helfer das wiedererwachte Herz der Menschheit genannt. Wir ziehen Flüchtlinge aus dem Wasser, geben ihnen trockene Kleidung, Essen, medizinische Versorgung und einen Schlafplatz. Viele von uns arbeiten täglich bis zur Erschöpfung. Und doch wissen wir: Das beendet die Not nicht. Auch weiterhin werden Städte bombardiert, Menschen vertrieben und Fliehende erschossen - mit Waffen, die in meinem Heimatland hergestellt wurden. Politiker in der Europäischen Union und außerhalb schließen Grenzen und bezahlen Schurkenstaaten, die Flüchtlinge in den Krieg zurücktreiben oder Flüchtlingsboote an den EU-Außengrenzen versenken.

Und in diesem Moment spielt oder schläft, lacht oder weint an der türkischen Küste das Kind, das als nächstes ertrinken wird. Ich verstehe Rosa Luxemburg, die angesichts des Krieges sagte: Vielleicht müssen wir aus der ganzen Menschheit austreten.

Was wir auf Lesbos täglich erleben, ist das Scheitern eines ganzen Systems und das Ausrufezeichen hinter dem Imperativ unserer Zeit: Verändert euch oder geht unter! Das gilt für uns alle.

Bewohner Europas: Der Wohlstand unserer Länder wurde mit den Waffen erkauft, mit denen heute Krieg geführt wird. Wer Krieg sät, erntet Flüchtlinge. Stillhalten ist keine Option mehr. Weder für die Flüchtlinge noch für uns wird es eine lebenswerte Zukunft innerhalb eines Systems geben, das auf Krieg angewiesen ist. Machen wir uns stark für das Ende von Waffenexporten!

Menschen auf der Flucht: Familienväter, die mit Mühe ihre Kinder nach Europa bringen konnten, Frauen, die in allen Kriegen die größte Last tragen. Junge Männer aus dem Maghreb, die schon so lange von einer freieren Welt träumen - alle auf dem Weg in die Metropolen des Nordens und Westens - und damit in das Zentrum des Systems, das ihre Heimat zerstört hat. Müssen sie sich wirklich in diesen falschen Traum integrieren? Sie brauchen ein anderes Ziel, das sie erreichen wollen.

Soldaten und Kämpfer aller Seiten: Sie folgen Befehlshabern, denen sie nicht vertrauen können, und kämpfen in Kriegen, die niemandem nützen. Sie lebten selbst einst in einer solchen Straße, die sie jetzt in Schutt und Asche legen. Eines Tages werden sie ihren Weg zurück in die Menschengemeinschaft suchen und brauchen die Chance zu einem Neuanfang.

Politiker und Entscheidungsträger, aus der Perspektive der Freiwilligen auf Lesbos haben wir naive Fragen an euch, die von den Kindern stammen könnten, die jeden Tag hier landen: Wenn man Bomben über Syrien abwerfen kann, warum werft ihr dann nicht Hilfsgüter ab? Ihr gebt Milliarden an ein Regime wie die Türkei, die Fliehende in den Bürgerkrieg zurücktreiben - wie schwer kann es sein, auf der türkischen Seite des Mittelmeeres ein Registrierungsbüro zu eröffnen und den Flüchtlingen so eine legale und sichere Überfahrt zu ermöglichen? Ihr ehrt Freiwillige und dankt der Willkommenskultur, warum zwingt ihr die griechische Polizei, Helfer zu behindern und zu verhaften? Wir wissen, ihr vertretet ein System, das nicht mehr funktioniert. Die Finanzzwänge und die technokratische Bürokratie der EU ersticken die besten Ideen. Tut nur eine Woche Dienst mit uns, hier auf Lesbos. Wie wird euer Herz darauf antworten? Welche Entscheidungen wird es von euch fordern?

Innerhalb des bestehenden Systems gibt es keine Lösung. Seine Waffen, Kriege, Produktions- und Konsumverhältnisse haben die Heimat von weltweit 60 Millionen Menschen zerstört. Echte Hilfe bedeutet, an den Ursachen anzusetzen und den Mechanismus zu überwinden, der immer wieder zu Krieg führt. Das gelingt, wenn wir ein neues System aufbauen, zunächst im Kleinen an vielen Orten weltweit, bis wir das alte ganz ablösen. Doch was das heißt! Wie viel Wissen über ökologische Rekultivierung, echte Zusammenarbeit, Gemeinschaft und Wahrheit untereinander dazu nötig sein wird! Wie viel Vergebung, wie viel Verständigung über alle Kulturen hinweg!

Wir freiwilligen Helfer auf Lesbos haben gezeigt, dass das Herz der Menschheit noch schlägt, trotz allem. Es ist eine politische Größe, mit der die Welt rechnen kann. Die ersten Flüchtlinge schließen sich an und werden ebenfalls zu Helfern. Hier entsteht eine neue, große Weltgemeinschaft. Menschen wachsen über sich hinaus, verständigen sich, kooperieren effektiv und bewirken Großes, wenn sie müssen. Dieses Muss ist jetzt für die ganze Welt gekommen.

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