Widerstand im Gefängnis der Geschichte

Leipziger und Berliner Theatergruppen spielen Heiner Müllers »Hamletmaschine« im Acud Theater

  • Mathias Schulze
  • Lesedauer: 4 Min.

Filmaufnahmen von Judith Meister eröffnen. Berichte von Zeitzeugen, die ’89 auf die Straße gingen. Sie erzählen vom elektrisierenden Gefühl des Aufstandes. Und von Ernüchterungen: Fremdbestimmungen statt demokratischer Sozialismus, rechtsextreme Gedanken in der Mitte der Gesellschaft. Preisen einige ihre Freiheiten, fühlen sich viele verkohlt. Von der Leinwand kommt Persönliches, Intimes. Bis plötzlich ein Darsteller (Soheil Boroumand) der Elterngeneration mit einer Spraydose über den Mund fährt und quer über die Leinwand »Ich bin Volker« spritzt.

Ein stürmischer Einstieg, ein rigoroser Einwand, ein radikaler Versuch, noch einmal von vorn anzufangen: Ab jetzt erlöse ich euch vom individuellen Schicksal, nun beginnt die Kunst! Ab jetzt zeige ich euch die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte, nun beginnt die »Hamletmaschine«!

Was folgt, ist eine körperliche Verausgabung, was folgt, ist der »Aufstand«. Unter der Regie von Beatrice Scharmann arbeiten die chekh-OFF players Berlin mit dem nain-TheaterColaborativ Leipzig zusammen. Boroumand wuchtet dabei Heiner Müllers Text, ein Wirrwarr der Stimmen, auferstanden aus den Schlachtfeldern der Shakespeareschen Tragödie, eine gute Stunde lang. Aus Müllers Formexperiment wird ein kraftvolles Selbstvergegenwärtigungsspiel, Rollenbrüche und Metrosexualität inklusive. Eine Live-Kamera begleitet den Darsteller, das Mittelfingerzeigen hebt seine Entfremdung aber nicht auf. Die Videoeinspielungen von Maryvonne Riedelsheimer sind ein wildes und gekonnt eingesetztes Durcheinander von Dokumentaraufnahmen des 20. Jahrhunderts. Links, rechts und im Hintergrund laufend, bilden sie einen geschichtlichen Katastrophenkäfig: Hitler, Stalin, revolutionäre Emphase, hungrige Massen, leere Versprechungen, Kämpfe.

Vergangene Jahrhunderte weisen in zukünftige. Kaum will sich der Darsteller behaupten, will er seine Kunst und seinen Monolog spielen, wird er von der Historie eingekeilt und verschüttet. Kaum will der Intellektuelle von vorn anfangen und mit dem Publikum reden, wird er von deren Erfahrungen wundgerieben. Ringt das Subjekt um eine eigene Gestaltungsmöglichkeit, macht ihn ein dauerbrummendes System aus Bildern, Meinungen und Zitaten zum bloßen Kopisten. Also hechtet und springt Boroumand, er tobt, klopft und flüstert. Mehr braucht es nicht.

Die Inszenierung baut auf die freigesetzten Assoziationen, auf die Worte Müllers: »Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.« Die Konzeption des koproduzierenden Zuschauers funktioniert prächtig. Ein aufmerksames Publikum, ein starkes Stück Theater.

Konkreter Schmerz und allgemeine Betrachtungen, erwachende Sinnbedürfnisse und angebotene Grundmuster des Geschichtsprozesses: Kollidieren Körper immer mit Ideen? Schaffen neue Ordnungen immer alte, blutige Erfahrungen? Zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen hüllt sich Boroumand in eine rote Fahne, von der Leinwand quillt Blut. Er sitzt, hört den Videofetzen zu, Revolutionäre rollen durchs ewige Herz. Dekorationen, die Beatles schmettern »We all want to change the word«. Derweil steckt im bürgerlichen Interieur, im Kuchen, längst eine Deutschlandfahne.

Und doch vernimmt man in der Inszenierung Glaubensreste eines sozialen und politischen Wesens. Hier gräbt etwas unter den Erfahrungen des Scheiterns und hinter dem Leid der Opfer nach intelligenten Widerstandsmöglichkeiten. Konserviert ein kaltes Schweigen die Farben einer Utopie? Kann ein dialektisches Denken die tausendfach möglichen Weltsichten beachten?

Boroumand spaltet das Publikum in Herrscher und Aufständische, die einen skandieren jeweils den anderen zu: »Haut ab! Haut ab!«. Perspektivwechsel. Aber kann man miteinander reden, wenn der eine Zigarre und Whiskey, der andere trockenes Brot konsumiert? Was tun, wenn sich aus den Klassen verschiedene Menschenarten entwickelt haben?

Am Ende trägt Boroumand ein weißes T-Shirt, darauf ist die Absage an einen vorschnellen Neubeginn, das Einreihen in den Geschichtsprozess, ins persönliche Erzählen der Anfangssequenzen zu lesen: »Ich bin der Volker.« Ist das ehrlich oder eine Aufgabe letzter Ideale? Bedeutet ein Verzicht auf Erwartungen ein opportunistisches Mitläufertum? Eine Antwort gibt es nicht, so gelungen kann freies Theater sein. Die Bühne wird zur Wunschmaschine, zum Medium eines kollektiven Erinnerns, das den unerledigten utopischen Anspruch der Menschennatur ins Gedächtnis ruft.

Premiere am 26. Februar, 20 Uhr, im Acud Theater, Veteranenstraße 21, Mitte. Weitere Aufführungen am 27. und 28. Februar

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