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»Dreaming Dogs« im Kino: Die Vorstadthunde von Moskau
Ein Bild der russischen Hauptstadt von heute aus der Perspektive der Underdogs – oder Dogs
Wer immer schon davon geträumt hat, in einem Rudel Hunde mitzulaufen, als gehöre er dazu, ist hier richtig. Die Obdachlose Nadja und der Streunerhund Dingo leben am Rande Moskaus und helfen sich, so gut es geht, durch den Alltag, der schwer ist. Natürlich sind sie nicht allein, um sie herum sind andere Obdachlose und andere Hunde. Lauter Entwurzelte, aus jeder Ordnung Gefallene, die nicht vorkommen im offiziellen Selbstbild der russischen Gesellschaft – solche, wie sie Dostojewski einst in »Erniedrigte und Beleidigte« in den Mittelpunkt seines Romans rückte.
Diese Parallelwelt haben Elsa Kremser und Levin Peter in »Dreaming Dogs« auf eine so diskrete Weise betreten, dass sie selbst dabei ganz und gar unsichtbar scheinen. Wer hat hier die Kamera geführt? Man glaubt, es sei einer der Hunde gewesen. Mittels einer besonderen technischen Vorrichtung befindet sich die Kamera immer in Kopfhöhe der Hunde, ist mittendrin, sodass sie schließlich gar nicht mehr als Fremdkörper wahrgenommen wird. Und etwas fällt von Anfang an auf: Die Hunde beobachten hier die Menschen, sie sind die Akteure dieses Films.
Nachts, wenn bloß noch einige wenige Straßenlaternen brennen, begeben sich die Hunde um Dingo, samt mobiler Kamera, auf gefährliche nächtliche Streifzüge durch die Vororte von Moskau. Immer auf der Suche nach etwas Essbarem. Es ist ein Bild des Moskau von heute aus der Perspektive der Underdogs eben. Trostlos und hässlich, denn Nadja und Dingo hausen in verlassenen Fabrikgebäuden, die immer mehr zu Ruinen werden.
Nadja ist vielleicht 70 Jahre alt, lebt vom Metallsammeln, trägt Lumpen und wirkt schmutzig. Ab und zu findet sie eine alte Zeitung und löst – eine Flasche Schnaps und einen Bleistiftstummel griffbereit – Kreuzworträtsel. Liest laut vor: Wie heißt der Regisseur des russischen Märchenfilms »Väterchen Frost«? Die Antwort hat sie sofort parat: Alexander Rou. Ich suche im Internet und bin erschüttert: Es stimmt. Nächste Frage: Gipfel in der griechischen Mythologie? Ohne lange nachzudenken, schreibt sie: Olymp.
Früher arbeitete sie selbst bei einer Zeitung, sagt sie, nun bettelt sie um etwas zu essen. Sie ahnt, dass sie bald sterben wird und redet eindringlich mit Dingo, der schnell ein richtiger Hund werden müsse, damit er sich allein durchschlagen könne, nachts im brutalen Überlebenskampf der Moskauer Vorstädte, wo man sich wegen eines Bissens wovon auch immer mit aller Aggressivität angeht.
Es ist ein tristes Sittenbild der vergessenen Seelen von Moskau, Menschen wie Tiere. Eine Handlung im konventionellen Sinne gibt es in »Dreaming Dogs« nicht, man streunt von Anfang bis Ende herum, einige Hunde und einige Menschen geraten dabei aus dem Blick und kommen nicht wieder ins Bild. Träumen Hunde eigentlich anders als Menschen? Vermutlich nicht, denn im Schlaf ergreifen Sehnsüchte und Ängste von Mensch und Tier gleichermaßen Besitz.
Der Status quo der Streuner um die alte Nadja und Dingo, den noch unerfahrenen Hund, hat etwas ebenso Quälendes wie Empörendes. Denn hier ist keine Änderung, gar Verbesserung in Sicht. Nur eines rückt näher: das Ende. Doch niemand um sie herum wird es bemerken. Zuletzt kommt die Müllabfuhr und schafft die letzten Reste dieser Leben fort. Keine Gewinner, nur Verlierer ohne Habe und Ansehen.
Mit »Dreaming Dogs« schließt das österreichische Regieduo Kremser & Peter an einen 2019 entstandenen Dokumentarfilm an, ebenfalls über Straßenhunde in Moskau: »Space Dogs«. Auch dieser Film setzte auf eine Art innerer Dramaturgie: die Gruppendynamik von Underdogs schlechthin. Auch hier liegen Solidarität und brutale Machtausübung immer im Streit miteinander. Wer nichts hat, ist nicht automatisch ein besserer Mensch oder auch Hund. Hunger macht gewalttätig, und wer schwach ist, frisst als Letzter im Rudel – oder gar nicht.
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»Space Dogs« hatte – unklar scheint, ob das nun ein Vorzug ist oder nicht – ein nachvollziehbares Thema, anders als die ziellosen Streuner in »Dreaming Dogs«. Wer war Laika, die heldische Hündin, die einen nicht selbst gewählten Opfertod als sowjetische Weltraumpionierin starb? Ein Moskauer Straßenhund, ebenso stark wie ausdauernd, anspruchslos wie anhänglich und vor allem liebesfähig wie jeder Streuner auf der Suche nach einem besseren Leben. Laikas Rückkehr zur Erde nach erfüllter Mission war nie ein Thema, ihr Tod Teil der Mission.
Der Kunstgriff von »Space Dogs« war, dass er den Geist von Laika in den heutigen Straßenhunden Moskaus wiederauferstehen ließ. Das hatte selbst etwas so Gezwungenes wie eine wissenschaftliche Versuchsanordnung. »Dreaming Dogs« dagegen kommt ohne einen solchen »Plot« aus, lässt die Hunde laufen, wie sie wollen – Hauptsache, die Kamera ist hautnah dabei.
Also besser ein träumender Hund bleiben, statt für fremde Forschungszwecke einen ehrgeizigen, aber dennoch elenden Tod zu sterben? Ich jedenfalls wüsste, was ich wählen würde, wenn ich Hund in einem Vorstadtrudel von Moskau wäre. Meide die Menschen, denen ein Hundeleben wenig gilt, von Nadja, der alten Schrottsammlerin einmal abgesehen, mit der man gut Kreuzworträtsel lösen kann! Ansonsten ist zu größtmöglichem Abstand zu einer aus Machthybris wahnsinnig gewordenen Welt zu raten. Die lässt Underdogs wie diese nicht einmal friedlich dem Ende entgegenträumen.
»Dreaming Dogs«, Österreich, Deutschland 2024. Regie und Buch: Elsa Kremser und Levin Peter. 77 Min. Kinostart: 10. Juli.
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