Kein Buch. Dynamit.

Christopher Ecker über Wahn, Sinn und Sein

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 4 Min.

»Vielleicht kehren wir nächtens immer wieder das Stück zurück, das wir in der fremden Sonne mühsam gewonnen haben?«, fragt Rainer Maria Rilke in der Erzählung »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«. »Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten.« Die Sinn-Frage, die ewige. Auf die es keine Antworten gibt. Oder unendlich viele.


Christopher Ecker: Der Bahnhof von Plön.
Roman. Mitteldeutscher Verlag. 400 S., geb., 22,95 €.


Die 400 Seiten des Romans von Christopher Ecker sind ein Labyrinth, auf dessen verschlungenen Windungen der Sinn in kleinen und kleinsten Bruchstücken verstreut scheint. Was die Hoffnung nährt, dem großen, dem letzten Sinn - zumindest dieses Buches - irgendwann zu begegnen. Aber wo? In einem heruntergekommenen New Yorker Hotel, in dem der Ich-Erzähler Phineas einen Berg halbverwester Leichen über zwei Etagen umschichten muss? In Kiel, wo der Protagonist zwanghaft im Zimmer einer von ihm ermordeten Frau logiert? Im Bibelmuseum von Amsterdam, wo ein Plan geändert wurde, der nicht einmal bekannt war? Oder auf dem Floß der Medusa, als Kunst ein Meisterwerk des Malers Théodore Géricault, als Realität in seiner Historie eines verzweifelten Kannibalismus das Sinnbild der Grenzen des Humanen schlechthin?

Eckers Buch ist ein Trip, eine Rauschreise durch Raum und Zeit, deren Begrenzungen in der transzendenten Topografie des Ich-Erzählers und des sonstigen belletristischen Personals keine Rolle spielen. Wer sich als Leser auf die tolldreiste Tour de Force einlässt, gerät unweigerlich in den Sog sophistisch-halluzinatorischer Seinserforschung, die den Weg des nach Antworten Suchenden mit immer neuen Fragen und Rätseln belegt.

Wahnsinn als Methode: Denn, wie Phineas bekennt, »sinnlos ist alles und sinnlos ist auch dieser Bericht, in dem sich mein Ich auflöst wie in der Leere, ein sinnloses Bekenntnis ...«. Doch wenn alles sinnlos ist, wer oder was gibt dem Leben dann Richtung, Ziel gar? Im Roman ist das vor allem der »Lotse«, jener aus der »alten Zeit«, der »alten Heimat« Kommende, der »alten Sprache« Kundige. Koordinator, Auftraggeber, Belohner und Bestrafer. Er bestimmt den Willen des Ich-Erzählers, einen Willen, dessen Zweifel-lose Freiheit von den wuchernden Metastasen des Illusionären nichts wissen will. Neue Schuhe schenkt er Phineas, dessen alte im Geglitsche der gammeligen Leichen verdarben. Doch dieser erkennt erschrocken: »Der Schenker hat Macht über den Beschenkten. Das ist der älteste und beste Trick, den wir zu Euch gebracht haben. Und ich war darauf reingefallen!«

Nicht nur Leichen, auch Philosophen pflastern seinen Weg: Kant, Kierkegaard, Heidegger - Sucher des Seins, deren vage Wortbrocken sich in der Seelenwüste der durch Welt und Wahn getriebenen Hauptfigur verlieren. Und immer wieder: das Floß der Medusa, zentrales Motiv, Scharnier der Schrecknisse, die wie Perlen auf dem Ariadne-Faden der Erzählung aufgereiht sind. Der Firnis der Zivilisation ist fein und fragil. Was sich aktuell hierzulande beobachten und erleben lässt.

Unter den bizarren Schauplätzen, das sei verraten, spielt auch der Kaliningrader Zoo eine Rolle. Welche, bleibt interpretierender Fantasie überlassen. Das Tiergefängnis inspiriert den Erzähler zu einer der originellsten Weisheiten des an originellen Weisheiten wahrlich nicht armen Stücks Literatur: »Nirgends treten die herrschenden politischen Verhältnisse deutlicher zu Tage als in den zoologischen Gärten eines Landes.«

Die Sinn- und Seinsfrage, bei deren Erkundung unter vielen weiteren Imponderabilien auch uralte Festen, Brückenwächter, ein dressierter Affe, der finstere Minzel, Herr Aurel und - endlich - der Bahnhof von Plön Wegmarken und -weiser sind, ist wohl selten in einer derart erschöpfenden Ergebnislosigkeit abgehandelt worden. Eine Ergebnislosigkeit, die den suchenden Leser indes mit einer faszinierenden Fülle an erregenden Anregungen zurücklässt, die ihn provoziert, in den Abgründen des Ichs zu wühlen und »nächtens« wachsam zu sein. Es ist, um ein Wort von Nietzsche zu variieren, kein Buch. Es ist Dynamit.

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