»Ausruhsam«

Der Schauspieler Bruno Ganz wird am Dienstag 75

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Dichter Botho Strauß sagte über Bruno Ganz einmal, »dieser Schauspieler hat noch nie über einen Satz hinweg gesprochen«. Jetzt wird der Mime, der vom Alpöhi in »Heidi« bis Hitler im »Untergang« alles gespielt hat, 75.

Im Kino kürzlich saßen mehr Erwachsene als Kinder. »Heidi«. Die Kinder sahen den Großvater, aber anzunehmen ist: Die Erwachsenen sahen vor allem Bruno Ganz. Große Schauspieler lassen bei aller Versunkenheit in einer Rolle nie vergessen, dass sie große Schauspieler sind. Handwerk und Dichtwerk, eines geht dem anderen zur Seite wie ein Tier. So auch hier. Dieser Großvater, der Alpöhi, in seiner Einsamkeitshütte hoch droben - er offenbarte in seiner drohlichen, dann traulichen Erscheinung just den, der ihn spielte. Ein Karger, Verschlossener, der nicht sich in Szene setzt, sondern mit jedem Moment seines Schweigens und Schauens ein Stück Welt setzt. Bergwelt, Seelenwelt - welches ist das stärkere Massiv? Oder ist Stärke nur der Schutzmantel? Wie in den Höhen der Schnee dem Unterboden, der bald wieder blühen wird. Weich und wanderbar. Wunderbar.

Der Arbeitsort des großen europäischen Schauspielers Bruno Ganz ist dort, wo eine unüberwindbare Entfernung zur schönsten, schwierigsten Erfahrung werden kann. Es ist die Entfernung zwischen einer Dichtung und dem, der sie ausdrücken möchte. Ganz will beides - diese Entfernung verkürzen und sie zugleich heiligen. Dies gibt dem Schauspieler eine geheimnisvolle, aber auch heitere Aura. Sie kommt aus Gebundenheit an eine alte Sitte: in der Kunst einzig und allein durch jenen ästhetischen Anschein zu überzeugen, den der innere Klang des Wortes hervorrufen kann. Effektfrei. Mal lichtklar leise, dann wieder brausend und scharf. Immer gegen die schnurrende Zeit.

Wenn man Ganz zuhört, erscheint Sprache oft wie ein Zähmungsakt gegen das Eruptive; hinter der Zunge scheint eine Zwingkraft zu liegen, ein Schleusenwerk wider das Wilde und Ungezügelte. Der Schweizer, 1941 als Arbeitersohn in Zürich geboren, brach als junger Mann auf zur Truppe um Peter Zadek in Bremen, ging nach Berlin an die Schaubühne Peter Steins. Geriet in die wachsende politische Illusionslosigkeit der Achtundsechziger. Irgendwann gingen bei ihm gebrochenes Weltempfinden und das unverletzbar bleibende Kunstgefühl eine bezwingende Liaison ein. »Wir waren politisch eine Generation, die sich daran verschliss, das Eigene zu formulieren. Dann reichte es nicht zur Weitergabe.«

Er spielte alle großen Rollen. Alle! Und ist dabei nie der expressive Verwandler gewesen. Doch mit jeder Geste ein durchrauntes Gelände. In München der Odysseus in Strauß’ »Ithaka«, in Wien die Titelrolle in Handkes Sophokles-Übertragung »Ödipus in Kolonos«. Wie da ein blinder Geschundener das letzte Kapitel Lebens-Kunst aufschlägt. Denn es ist eine große Kunst, mit dem Leben aufzuhören, das Hinübergehen zu betreiben! Bruno Ganz spielte mit märchenhafter, versteinernder Grazie den krönenden Ehrgeiz eines Menschen, einzig noch das Verschwinden zu betreiben. Die greise Abschiedsstunde wie der Moment vor einer Geburt - paradox. Wo etwas paradox wird, ist es einer Wahrheit wahrscheinlich sehr nah.

Längst ist er ein Prägender des Kinos. Charakterweltglanz in Filmen von Wenders, Handke, Rohmer, Herzog, Schlöndorff, Tanner, Goretta, Coppola, Angeloupolos, Ridley Scott. Er gab im »Untergang« den Hitler. Bedürfnis siegte über Bedenken. Aller Streit um Hirschbiegels Film hatte seine Berechtigung, aber einige Kritiker meinten in der Bereitschaft von Ganz, diese Figur zu spielen, und in der Weise, ihn so und nicht anders zu spielen, einen Beleg gefunden zu haben für die wachsende Verkommenheit des Berufsstandes. Nein. Ganz, der Wägende, der Ungebundene, hat da nur sehr erfrischend natürlich gehandelt, nämlich mit jener preschenden Neugier, ohne die dieser Beruf nicht denkbar wäre: das Unspielbare spielen, das Unbegreifliche berühren wollen. Heilig sei der unheilige Grundsatz des Komödiantentums: Führe mich in Versuchung! Göttliches versuchen - und zwar in den Teufelsrollen!

Er würde schwören, schrieb der bereits erwähnte Dichter Botho Strauß, »dieser Schauspieler hat noch nie über einen Satz hinweg gesprochen.« Ganz ist dem Schriftsteller seit vielen Jahren Bruder in Denkungs- und Fühlungsart. Er hat Strauß vehement verteidigt, als es Anfang der 1990er Jahre im »Anschwellenden Bocksgesang« um solche Sätze ging: »Anders als die linke, Heilsgeschichte parodierende Phantasie malt sich die rechte kein künftiges Weltreich aus ... sie ist immer und existentiell eine Phantasie des Verlustes und nicht der (irdischen) Verheißung. Eine Phantasie also des Dichters, von Homer bis Hölderlin. Der Rechte, in solchem Sinn, ist vom Neonazi so weit entfernt wie der Fußballfreund vom Hooligan.« Rechts als Begriff doch nur, weil es auch ein Links gibt, und weil jede Position eine Opposition geradezu natürlich hervorbringt. Ganz über Strauß: »Die Reaktion auf ihn war so heftig, es hätte ihn auch brechen können, hat es aber nicht, und ich bewundere ihn dafür.« Martin Walser jüngst zu diesem Thema medialen, meist groben und grinsenden Richtertums: »Ich wurde, ohne dass ich mich geändert hatte, aus einem Kommunisten zum Nationalisten gemacht. Und das, weil ich schrieb, ich könne mich an die Teilung Deutschlands nicht gewöhnen ... Und wenn ihnen nicht passt, was ein Botho Strauß in vollkommen argloser, aber großer Sprache liefert, erklären sie ihn zum Faschisten.«

Immer, wenn ich Ganz sprechen sehe und spielen höre, dann fühle ich Fragen: Warum fällt uns heute alles so leicht? Warum ist unsere Zunge in so vielen Dingen so gelöst? Warum müssen wir alles immer sofort verstehen, verwerten, vernutzen? Warum reizt uns nicht, was sich uns entzieht? Und warum müssen wir es auf unser Niveau ziehen, und warum merken wir nicht beschämt, dass vieles, was wir zu uns heranziehen, ein Herunterziehen wird, geradezu ein Herabwürdigen?

Beharrlich altert sich dieser Spielkünstler ans Beständige heran, das die Dichter stifteten. Wissen möchte er zurückzaubern in jene Ahnung, die mehr weiß. Dieser Künstler ist arbeitend eine berührende Gegenwelt zu jenen, die - wie Adorno schrieb - »den metallenen Glanz eines Septembergedichts mit einem Büchsenöffner aufzureißen versuchen, um den vermutlichen Inhalt zu entdecken. Genauso gut könnte man versuchen, mit einer Sense die Abendröte aufzuschneiden, um dahinter den Himmel zu entdecken«. In seiner Gelassenheit und in der Art, in entscheidenden Fragen unbeweglich zu bleiben, wirkt der Schauspieler so, wie es Peter Stein in einer »Faust«-Probe mit einem schönen, gar nicht existierenden Wort ausdrückte: Sein Hauptdarsteller sei »ausruhsam«. Heute wird Bruno Ganz 75 Jahre alt.

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