Keine Chefs, keine Hierachie

Zahl der selbstverwalteten Betriebe steigt wieder - ein Kartenspiel stellt die Kollektive vor

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 5 Min.
Von »about blank« über »Oktoberdruck« bis »Tante Horst«: Unter dem Motto »Das Richtige im Falschen!?!« stellen sich 36 Kollektivbetriebe spielerisch vor. Nicht alle Kollektivbetriebe sind im Quartett vertreten.

Das längste Plenum dauerte 44 Stunden - Schlaf- und Essenspausen eingeschlossen. Damit ist das »Drittwerk«, eine Werkstatt für Metallbearbeitung, allerdings noch lange nicht auf Platz eins der Berliner Kollektivbetriebe. Der Bioladen »Kraut und Rüben«, ein Frauenkollektiv am Heinrichplatz in Kreuzberg, hat mal ein ganzes Wochenende durchgetagt. Noch länger hielt es die Kreuzberger Taxi-Genossenschaft aus: Drei Tage am Stück hat das 1980 gegründete Kollektiv schon pleniert. Auf vier Tage kamen die »Solarwarmduscher_innen«. Dunkelziffern nicht mit eingeschlossen.

Im »Supertrumpfkollektiv-Spiel« stellt das Netzwerk der Berliner Kollektivbetriebe 36 selbstverwaltete Unternehmen vor. Mit dabei sind Urgesteine wie die Druckerei »Oktoberdruck« aus dem Jahr 1973 und das »Café Cralle« im Wedding (1977), aber auch junge Initiativen wie die Brauerei »Spent Brewers« (2015) und die Firma für Energietechnik »KanTe« (2014).

Die Diskussionsfreudigkeit der selbstverwalteten Betriebsmitglieder wird auch von den Spielern erwartet. Wer gewinnt: das Kollektiv mit den längsten oder den kürzesten Plenumszeiten? Das sieht jeder anders und muss ausgehandelt werden. Hoher oder niedriger Altersdurchschnitt? Der liegt übrigens bei den Kurieren vom Fahrwerk mit 27 Jahren weit unter dem der übrigen Unternehmen. Jünger als (durchschnittlich) 30 sind ansonsten nur noch die Kollektivisten der Kneipe »Meuterei« in der Reichenberger Straße und die Mitarbeiter der »KanTe«. Das höchste angegebene Durchschnittsalter haben mit 61 Jahren die Wilmersdorfer Kneipiers der »Straßenbahn« - obwohl: Die Buchhändler der »Schwarzen Risse« in Kreuzberg haben die Aussage verweigert.

Schwierig haben es die Spieler auch, mit der Anzahl der Kollektivisten zu punkten - jedenfalls, wenn ihnen die Karte der »Spent Brewers« in die Hände fällt. Drei waren sie, als das Spiel gedruckt wurde. »Bald 5« steht in Klammern daneben. Wie löst man das im Wettstreit auf? Null Quadratmeter Gewerbefläche haben sie übrigens. Wo sie wohl ihr »Red Oat Ale«, ihr »Pilsz« und das »Maple Walnut Stout« lagern? Aber vielleicht ist auch die Angabe veraltet. Eine Adresse haben sie jedenfalls.

Nicht alle Kollektivbetriebe sind im Quartett vertreten. 44 selbstverwaltete Unternehmen in Berlin zählt Andy Wolff von der Regenbogenfabrik, die am vergangenen Wochenende ihr 35-jähriges Jubiläum feierte. Das im Herbst 2012 gegründete Netzwerk der Berliner Kollektive listet auf seiner Seite hingegen nur 25 auf. Zur Boomzeit Ende der 1970er Jahre gab es wesentlich mehr - Wolff schätzt die Zahl auf rund 200. Viele wurden mit der Zeit in reguläre Unternehmen umgewandelt. Andere konnten sich wirtschaftlich nicht halten. Nach einer Flaute in den 1990er Jahren sind in den vergangenen Jahren wieder mehr Kollektive gegründet worden. »Der Wille und der Wunsch, ein Kollektiv zu gründen, sind wesentlich stärker als noch vor zehn Jahren«, sagt Katja Grabert vom Netzwerk Selbsthilfe: Immer mehr Menschen lassen sich vom Netzwerk sowie der »AGBeratung« bei der Gründung eines Kollektivs beraten. Darunter sind Cafés und Kneipen und Projekte mit Bildungsangeboten. Grabert führt das darauf zurück, dass die Arbeitsbedingungen immer prekärer werden. »In Kollektiven sind sie das meistens auch, aber selbstbestimmt prekär.« Wie viele von den Ideen letztlich realisiert werden, weiß Grabert nicht, genauso wenig, wie lange die Projekte bestehen bleiben. Sie schätzt, dass in den vergangenen fünf Jahren allein in Berlin rund 30 Gruppen neu gegründet wurden.

Die genaue Zahl ist schon deshalb so schwer zu fassen, weil es in Deutschland keine eigenständige Rechtsform für Kollektive gibt. Sie gründen Genossenschaften, Personengesellschaften, Vereine oder GmbHs, die auf dem Papier Geschäftsführer und Angestellte haben. Interne Verträge regeln dann häufig die gemeinschaftliche Verantwortung.

Wer sich in einem Kollektiv zusammenschließt, möchte seine Arbeitsverhältnisse selbst bestimmen, will keinen Chef oder andere Hierarchien. Alle sollen das Gleiche verdienen, egal, ob - wie in der »Backstube« in Kreuzberg - Bäcker oder Lieferant. Im Praxiskollektiv in der Reichenberger Straße zahlen sich vom Arzthelfer bis zur Psychotherapeutin alle den gleichen Lohn aus. Allerdings: Wer mehr arbeitet, bekommt am Ende des Monats auch mehr ausbezahlt. In einigen Gruppen wie dem Veganladen »Dr. Pogo« in Neukölln wird zwischen den Aufgaben rotiert. »Wir wollen nicht, dass sich Spezialisierungen herausbilden und letzten Endes nur einer alles weiß«, erzählt ein Kollektivmitglied.

Dass Kollektiv sein nicht nur gemeinsames Arbeiten bedeutet, zeigt die Quartett-Kategorie »Weitester Kollektivausflug«. 998 Kilometer weit reisten beispielsweise die »Solarwarmduscher_innen«: zum Wieserhoisl. Das ist - wer errät es? - natürlich auch ein Kollektiv. Eine Hofgemeinschaft in Nachbarland Österreich.

»Viele Köche verbessern den Brei«, heißt es auf der Internetpräsenz der Berliner »Kollektiv-Betriebe«. In zehn Schritten wird dort humorvoll der Weg zum »kollektiven Olymp« erläutert. Neben dem Hinweis »Ohne Chef_in dauert's länger« findet sich unter anderem auch der Vorschlag »Feiert«. Kleine und große Erfolge sollen entsprechend gewürdigt und gebührend von den Kollektiv-Mitgliedern gefeiert werden.

Was das angeht, haben die selbstverwalteten Betriebe in Berlin im Prinzip allen Grund, die Korken knallen zu lassen: Schließlich gibt es in der Hauptstadt so viele alternative Betriebe wie sonst in keiner anderen Stadt der Republik. Und auch wenn es in den 1970er Jahren einmal mehr waren, stieg die Zahl selbstverwalteter Betriebe zuletzt wieder an. Angesichts des ökonomischen Drucks und immer mehr prekarisierter Arbeitsverhältnisse gibt es verstärkt das Bedürfnis, sich gleichberechtigt und gemeinsam zu organisieren - auch in ökonomischer Hinsicht.

In Berlin gibt es sogar eine »AGBeratung«, die die angehenden Zusammenschlüsse unter ihre Fittiche nimmt. Früher hießen die Berater mal »RGW« in Anlehnung an den »Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe« der sozialistischen Staaten. Das 25-jährige Beraterwissen in Sachen Kollektive wurde inzwischen von jüngeren Leuten übernommen. Mit kreativen Aktionen wie dem »Supertrumpf-Kollektiv-Spiel« oder Kongressen zu solidarischen Ökonomien wird für Aufmerksamkeit gesorgt.

In den vergangenen Jahren gab es auch mehrfach Fahrradtouren zu den Kollektiven. Das Spektrum der zu besichtigenden Betriebe ist groß: Neben Druckereien, Transportbetrieben und Werkstätten gibt es Medienkombinate, Kneipen und Clubs, die kollektiv organisiert sind. Sie alle zeigen, dass Kooperativen machbar sind. Es gibt sogar Beispiele, die wie der Club »about blank« als stadtweite Erfolgsgeschichte gelten. Wichtig ist, sich zu trauen. Scheitern als Chance zu begreifen. Oder wie die AGBeratung sagt: »Ein Meter Praxis ist besser als hundert Meter Theorie.«

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