Der Hirte und seine Herde

Von Aberglauben und Bischöfen

  • Frank-Rainer Schurich und Christian Stappenbeck
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Geister vergangener Jahrhunderte, ja Jahrtausende, haben ihre Spuren in den Wörtern hinterlassen, und sie leben wohl in den Köpfen weiter, wenn wir dreimal auf Holz klopfen. Ein jeder weiß, was es mit dem Aberglauben auf sich hat. Aber wer kennt noch die »verworfenen Tage« oder weiß etwas vom »Angang«? Einst spielten diese Dinge jedoch eine bedeutende Rolle bei der Entscheidung, ob ein Vorhaben erfolgversprechend fortzuführen sei und ob und wann man es überhaupt beginnen könne. Heute hat kaum noch jemand Angst vor einem Freitag, dem Dreizehnten, einem verworfenen Tag.

Zum Tatbestand des modernen Aberglaubens gibt es eine bekannte Anekdote über den Nobelpreisträger Niels Bohr (1885-1962). Zu ihm kam ein Besucher und wunderte sich, dass über der Haustür des Physikers ein glückverheißendes Hufeisen hing. »Glauben Sie denn daran?«, fragte er. »Nein, glauben nicht. Aber vielleicht hilft das Eisen trotzdem.« Dieser oder jener Brauch, der aus altüberliefertem Magieglauben stammt, ist bei vielen unserer Zeitgenossen mit einem Augenzwinkern im Schwange.

In der Antike war die Deutung der Vorzeichen eine staatlich-religiöse Angelegenheit, Amtspersonen machten aus Vogelflug oder Eingeweideschau eine offizielle Vorhersage. Zu diesen Amtspersonen gehörte neben dem Pontifex der Augur (vom wissenden »Augurenlächeln« des Eingeweihten spricht man bis heute). Mit der Christianisierung war dies vorbei, die Zeichendeutung nun privatisiert und kirchenoffiziell verboten. Denn nach dem Gesetz Moses wurde dem Volk untersagt, Geister zu beschwören und Zeichen zu deuten (5. Mose 18, 11). Es geschah dennoch weiterhin. Jacob Grimm, Altmeister der Sprachforschung, bemerkte: »Da, wo das christenthum eine leere stelle gelassen hat, wo sein geist die roheren gemüter nicht sogleich durchdringen konnte, wucherte der aberglaube oder überglaube.«

Zwei Formen des magischen Glaubens sind deutlich zu unterscheiden. Der aktive Aberglaube ist darauf gerichtet, durch bestimme Handlungen die Zukunft zu beeinflussen (etwa dreimal auf Holz klopfen). Der passive Aberglaube besteht darin, dass dem Menschen ohne sein Zutun ein auffälliges Zeichen erscheint, welches Heil oder Unheil kündet. Dazu gehört der Angang, mittelhochdeutsch aneganc oder widerganc, womit gemeint ist: das, was einem entgegenkommt. Die erste Begegnung morgens beim Verlassen des Hauses oder beim Antritt einer Reise soll eine Vorbedeutung haben für die kommende Unternehmung. Als böser Angang gilt beispielsweise eine schwarze Katze, von links kommend. Auch der Kuckuck hat eine ominöse Bedeutung. Erschallt sein Ruf von rechts, ist es ein gutes, von links ein übles Zeichen. Seine Rufe werden gezählt. Die allseits bekannte Frage lautet auf Plattdeutsch: »Kukuk vam häven, wo lang schall ik leven?« (... wie lang werd ich leben?) Der Rabe wiederum, früher Symbol der zukunftswissenden Klugheit und als Götterbote geachtet (nach der Sintflut ließ Noah einen Raben fliegen, 1. Mose 8, 7), entwickelte sich zum Galgenvogel, zum Künder von Unglück und Tod, sicher wegen seiner schwarzen Farbe und seines krächzenden Rufes.

Auf dem Schlachtfeld beliebt und begehrt waren die unverwundbar machenden Stoffe und die Passauerzettel, talergroße blutbemalte Zettel, die als Amulett den Soldaten »fest« machen sollten gegen Degen, Spieße und Musketenkugeln. Ein Passauer Henker soll sie erfunden und damit ein gutes Geschäft gemacht haben.

Der Glaube an zu meidende Tage, diēs ātri (Unglückstage), herrschte auch bei den alten Römern. An diesen Tagen durfte nicht geopfert und nichts Neues begonnen werden. Bei unseren germanischen Vorfahren wurden sie »verworfene Tage« (oder Schwendtage im Elsass) genannt. Martin Luther (1483-1546) mahnte vergeblich, dass man das erste Gebot übertrete, wenn man »sein Werk und Leben nach erwählten Tagen und Himmelszeichen« richte.

In Bauern- und anderen Regelbüchlein waren die Merk- und Unglückstage monatsweise verzeichnet. Für den 21. März ist die Bauernregel bekannt: »Willst du Erbsen, Zwiebeln dick, säe an Sankt Benedikt.« Im Dezember beginnen die zwölf geheimnisvollen Raunächte, bekannt auch als die »Zwölften«. Sie liegen zwischen Weihnachten und Dreikönigstag, also zwischen dem Geburtsfest Jesu, das anno 354 auf den 25. Dezember festgelegt wurde, und dem Fest Epiphanias (der »Erscheinung des Herrn« am 6. Januar). In diesen Nächten samt den zugehörigen Tagen gilt es vieles zu beachten: Die Bäuerinnen backen kein Brot, spinnen nicht und waschen keine Wäsche, um die Geister nicht zu verärgern.

Weitere Beispiele für den tätigen, aktiven Aberglauben sind das Wagenrad über dem Torweg, das Amulett gegen den bösen Blick sowie das Kruzifix. Vor allem das Kreuzeszeichen sollte gegen Hexen und Teufel helfen. Manche Bauern pflügten in die vier Ecken ihres Ackers ein Kreuz, um Unheil abzuwenden. Statt Rad und Hufeisen findet man noch heute über Hauseingängen die Buchstaben C+M+B, eingerahmt von einer Jahreszahl. Das ist die Abkürzung für den frommen Gebetswunsch »Christus mansionem benedicat« (lat. für: Christus segne dies Haus) und wird in Umdeutung der Buchstaben auch auf die heiligen drei Sterndeuter bzw. Könige aus dem Morgenland Caspar+Melchior+Balthasar bezogen.

Abergläubische Regeln bestimmter Berufsgruppen könnten auch einen recht praktischen Sinn gehabt haben, um wirkliches Unheil abzuwenden. So ist es unter Schauspielern verpönt, im Theater vor oder hinter der Bühne und überhaupt zu pfeifen. Da viele Unglücke passierten, wenn bei der früheren Gasbeleuchtung eine Düse ohne Flamme blieb und das Gas pfeifend ausströmte (was man hören sollte und nicht überhören durfte), ist das Pfeifverbot erklärlich. Vielleicht ist Pfeifen aber auch nur deshalb nicht erlaubt, weil es nach einem Auspfeifen klingen könnte. Zwei unterschiedliche Meinungen hierzu äußerten König Friedrich II. und Johann Wolfgang von Goethe. Für den freisinnigen König galt: »Der Aberglaube ist ein Kind der Furcht, der Schwachheit und der Unwissenheit.« Der Dichter aber sagte: »Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens.«

Für Atheisten ist auch jedwede Religion Aberglauben. Da Ostern ist, wenden wir uns hier der christlichen zu. Der Bischof hat ein altgriechisches Wurzelwort: epí-skopos, was wörtlich den Aufseher meint. Es hat alle Sprachen Europas von Spanien bis zum Ural erobert. Weich und vokalreich klingt es auf Italienisch und Französisch (vescovo und évêque), härter auf Schwedisch und Sorbisch (biskop), Tschechisch und Russisch (biskup und jepískop). Bei den Ungarn heißt der Bischof püspök (gesprochen püschpöck), irisch easpaig und walisisch espog.

Der Episkop im vorchristlichen, griechisch-hellenischen Bereich war ein Aufseher vielerlei Art, ein Bewahrer und Verwalter von Verträgen oder ein königlicher Beamter in unterworfenen Ländern. Wie in Mikroskop und Epidiaskop hat -skop(os) etwas mit sehen zu tun, und epi- ist dieselbe Vorsilbe wie in Epilog, Epigramm, Epigone und bedeutet: auf, nach oder bei. Mit der Entstehung der frühchristlichen Gemeinden im römischen Weltreich kamen den »Aufsehern« mehrere Tätigkeiten zu: die Prüfung der Taufbewerber, die Seelsorge, die Predigt, die Verwaltung der heiligen Sakramente, kurz das »Weiden der Herde« Gottes.

Der weidende Hirte ist eine Gestalt eigener Art in der jahrtausendealten Religionsgeschichte Israels. Das Bild des guten wie auch des schlechten Hirten blieb in der christlichen Tradition erhalten. »Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe. Der Tagelöhner aber, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht«, heißt es in einem Jesus in den Mund gelegten Wort bei Johannes (10, 11+12). Das Gleichnis vom verlorenen Schaf steht für den reuigen Sünder, über den im Himmel mehr Freude herrscht als über 99 Gerechte. Das gute Hirtenbild wurde auf den Bischof übertragen. Er soll selbstlos für seine Herde sorgen. Nach Johannes (21, 16+17) beauftragte Jesus seinen Jünger Petrus: »Weide meine Lämmer! Weide meine Schafe!« Heute eine ambivalente Aufforderung. Denn mit Schafen verglichene Gemeindeglieder werden zu passiven, empfangenden Wesen gestempelt.

Der Hang zur Hierarchie, zur festen Rangfolge, nahm seinen Lauf. Der Bischof und Patriarch von Rom als Nachfolger des Apostels Petrus beanspruchte die oberste Jurisdiktion und wurde zum Papst (griech. páppas = Papa, Kindersprache). Der Patriarch von Konstantinopel widersprach, und die Kirchenspaltung war da. In der westeuropäischen Feudal- und Lehensgesellschaft erwarben die Bischöfe sukzessive eine Stellung ähnlich weltlichen Herren. Die Bistümer wurden wie ein Lehen vom König als Lehnsherrn verliehen. Die Einsetzung in das Amt nannte man Investitur, wörtlich Einkleidung. Im Investiturstreit ging es um die Frage ging: Wer darf den Bischof ernennen? Man einigte sich 1122 in Worms auf einen Kompromiss: Dem Papst steht die Investitur des Bischofs mit den geistlichen Insignien zu, dem König dagegen die Verleihung des Zepters als Zeichen eines weltlichen Reichslehens.

Die hohe Bischofsmütze, Mitra genannt, mit zwei auf den Rücken herabhängenden Bändern, das goldene Brustkreuz, der Bischofsring mit edlem Stein, der seit dem 10. Jahrhundert die geistliche Vermählung mit der Kirche symbolisiert, die breite Schärpe ... - die äußerliche Pracht der hohen Geistlichkeit erfreute und erfreut noch heute viele fromme Gemüter, führte andererseits aber auch zu Protest, weshalb die protestantischen Pastoren und leitenden Geistlichen nach der Reformation betont schlichte Amtstracht bevorzugten. Doch mehr Farbe in der Kleidung ist neuerdings auch bei evangelischen Bischöfen zu bemerken.

Apropos Farbe: In einigen Gegenden kennt man ein Getränk, zubereitet aus Rotwein, Zucker, Gewürzen und unreifen Pomeranzenschalen. Der glühweinartige Trank heißt Bischof. Warum? Weil seine violette Farbe an die Tracht eines (katholischen) Bischofs erinnert.

Von unseren Autoren erschien zur Leipziger Buchmesse »Kuriose Funde einer Wortschatzsuche«. Verlag Dr. Köster, 248 S., br., 12,95 €.

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