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Ein Traumtor und die Kraft der Stille

England besiegt Deutschland – das Länderspiel war aber auch ein Erfolg für alle

Nach einer beeindruckenden Schweigeminute sorgen im Berliner Olympiastadion nur die Engländer für gute Stimmung – auf dem Platz und den Tribünen. Mit 2:3 verliert Deutschland verdient das erste Länderspiel im EM-Jahr.

Seinen größten Moment hatte das Länderspiel zwischen Deutschland und England am Samstagabend bevor es los ging. Die Kraft der Stille: Mit einer Schweigeminute gedachten die 71.413 Zuschauer im Berliner Olympiastadion der Terroropfer von Brüssel. Der sportliche Höhepunkt beim 3:2-Sieg der Engländer war in der 74. Minute zu bestaunen.

Geduld mussten die Besucher schon vor der Partie aufbringen. Aufgrund verstärkter Sicherheitsmaßnahmen dauerte der Einlass etwas länger als gewohnt. Da aber viele der Bitte gefolgt waren, etwas früher zu erscheinen und keine Taschen mitzunehmen, waren alle pünktlich zum Spielbeginn auf ihren Plätzen. Nach dem Abpfiff tanzten die Engländer wild auf der Tribüne, die Reise zum Weltmeister hatte sich für sie gelohnt. Ein Erfolg für alle Beteiligten war dieses Länderspiel, weil es ohne Zwischenfälle, ruhig und friedlich über die Bühne ging.

Reichlich Geduld mussten die Zuschauer aber auch noch nach dem Anpfiff aufbringen. In der ersten Halbzeit erlebten sie ein sehr zähes Spiel. Die recht unerfahrene englische Mannschaft überzeugte vor allem durch gutes Pressing. Einige Ballgewinne führten zu Torchancen, wirklich gefährlich wurden die Engländer aber nicht. Ihren Fans war es egal: Sie sangen und unterstützten ihr Team jederzeit leidenschaftlich.

Für etwas Stimmung unter den deutschen Zuschauern, konnte ab und an nur das DFB-Maskottchen sorgen. Von Paule animiert, klatschten sie ab und an mal im Takt dieses ulkigen, schwarzen Vogels. Das Geschehen auf dem Rasen in den ersten 45 Minuten jedenfalls kaum Gelegenheit für Gefühlsausbrüche. Durch das frühe Attackieren der Gäste kam kaum ein Spielfluss zustande. Schaffte es die DFB-Elf doch mal, sich in der gegnerischen Hälfte fest zuspielen, verteidigten neun Engländer in zwei Abwehrketten vor dem eigenen Strafraum. So hatte auch die deutsche Mannschaft kaum eine nennenswerte Torchance.

Dass vor der Pause doch noch gejubelt wurde, war einer Einzelleistung von Toni Kroos und einem typisch englischen Problem zu verdanken. In der 43. Minute bekam er den Ball im Mittelfeld, lief ein paar Schritte, wurde nicht wirklich bedrängt und zog mit links aus 20 Metern ab. Der Ball schlug neben dem linken Pfosten im kurzen Eck ein. Ein Torwartfehler. Es scheint immer noch Verlass darauf zu sein, dass die Engländer ein Problem zwischen den Pfosten haben. Zu allem Unglück verletzte sich Keeper Jack Butland bei seiner missratenen Flugeinlage auch noch, für ihn musste Fraser Forster eingewechselt werden.

»Wir haben verdient verloren«, ärgerte sich Bundestrainer Joachim Löw später darüber, sogar eine 2:0-Führung noch verspielt zu haben. Mario Gomez hatte nach einem feinen Pass von Sami Khedira in der 57. Minute per Kopf den zweiten Treffer für die DFB-Elf erzielt. Aber: »Selbst als wir in Führung lagen, hatten wir keine Spielkontrolle«, kritisierte Löw.

Tatsächlich hatte die deutsche Mannschaft über 90 Minuten Probleme im Spielaufbau und im Herausspielen von Torchancen. Und das lag nicht nur am aggressiv verteidigenden Gegner. Im ersten Länderspiel seit November fehlte jede Selbstverständlichkeit: keine der gewohnten Passkombinationen, kaum Raumgewinne durch Seitenwechsel, fehlendes Verständnis ob unklarer Laufwege.

Besonders auffällig war das Fehlen der eigentlichen Stärke, der Dominanz im Mittelfeld. Allein Toni Kross war bemüht, dem Spiel Struktur zu geben. Aber er bekam zu wenig Unterstützung. Sami Khedira, sein Partner in der Zentrale, hatte einen ganz schlechten Tag erwischt. Behäbig und ungelenk nahm er immer wieder das Tempo aus dem Spiel und leistete sich zudem ungewohnt viele Fehlpässe. Der dritte zentrale Mittelfeldspieler Mesut Özil versteckte sein Können an diesem Abend komplett.

Aber auch alle anderen Mannschaftsteile trugen dazu bei, dass nur wenig zusammenlief. Die Abwehr, erst mit Mats Hummels, in Halbzeit zwei dann mit Debütant Jonathan Tah, und Antonio Rüdiger in der Zentrale sowie den beiden Außen Jonas Hector und Emre Can war in der Defensive unsicher und konnte in der Vorwärtsbewegung kaum Impulse geben. Ganz vor im Sturmzentrum spielte Mario Gomez. Zwar hatte er die eine oder andere Chance. Aber dem Spiel der Mannschaft konnte er nichts geben. Meist versteckte er sich zwischen den beiden englischen Innenverteidigern und wartete dort auf Pässe in die Spitze. Als wichtige Anspielstation fiel er so aber komplett aus. Und weil sich Gomez nicht wirklich viel bewegte, schuf er auch keine Räume für die nachrückenden Mittelfeldspieler oder die Flügelstürmer. Somit waren auch Marco Reus und Thomas Müller auf den Außenbahnen für die Engländer recht leicht zu verteidigen.

Die entscheidende Wendung nahm das Spiel in der 71. Minute. Englands Nationaltrainer Roy Hodgson wechselte Jamie Vardy für Danny Welbeck ein und ließ fortan mit zwei Stürmer im 4-4-2-System spielen. Harry Kane, die bis dato einzige Spitze, hatte zehn Minuten vorher nach einem Eckball mit einem satten Flachschuss zum 1:2-Anschluss getroffen. Mit dem 29-jährigen Vardy stand jetzt der Mann auf dem Platz, der in dieser Saison mit 19 Toren und dem Tabellenführer Leicester City die Premier League aufmischt. Schon drei Minuten nach seiner Einwechslung zeigte warum. Nach einem Angriff über die rechte Seite brachte Außenverteidiger Nathaniel Clyne den Ball flach und hart in den Strafraum. Kein Problem für Vardy: Mit der Hacke traf er aus fünf Metern ins kurze Eck. Das Traumtor war im fünften Länderspiel zugleich sein erstes und der Ausgleich in der 74. Minute.

Auch Roy Hodgson schwärmte später noch von diesem Treffer – und von seiner Mannschaft. Vardy, Kane, Delle Alli, Eric Dier, Nathaniel Clyne, Danny Rose … keiner dieser Spieler hat bislang mehr als zehn Länderspiele. Hodgson zählte begeistert die Namen und gab damit dem Sieg noch mehr Bedeutung: »Es ist ein wirklich schönes Erlebnis, den Weltmeister zu schlagen.« Nach dem Ausgleich hatten die Engländer noch einige gute Chancen. Den Siegtreffer erzielte Eric Dier nach einem Eckball per Kopf in der Nachspielzeit. Und Hodgson machte Hoffnung: »Unser Team ist noch mitten in der Entwicklung.« Gleichzeitig verwies er aber auch darauf, dass man einem Testspiel nicht allzu viel Bedeutung beimessen sollte.

Genau diese Ansicht vertritt Joachim Löw schon immer. Selbst dann, wenn nach Niederlagen in der direkten Turniervorbereitung Kritik und Zweifel in der Öffentlichkeit überwogen haben. Und so wird der Bundestrainer auch dieses 2:3 richtig einordnen. Auch wenn er bei der Frage nach Erkenntnissen des Spiels in seiner Antwort sehr unkonkret blieb. Wichtig war dieses Spiel ganz bestimmt in dem Sinne, dass die Spieler auf hohem Niveau gefordert wurden. Bis zu EM wird sich das Gesicht der Mannschaft sicher noch verändern. Und sie sich wird vieles, was am Samstagabend noch gefehlt hat, wieder erarbeiten. Die nächste Gelegenheit bietet sich schon am Dienstag in München. Dann komm mit Italien der nächste große Gegner.

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