Hessen soll »entrümpelt« werden

CDU will soziale und kapitalismuskritische Punkte der Landesverfassung von 1946 streichen

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 4 Min.
Hessens Landesverfassung ist knapp 70 Jahre alt und gilt als eine der fortschrittlichsten Länderverfassungen der Republik. Macht die SPD mit bei dem Versuch, dies zu revidieren?

Einen neuen Anlauf zur grundlegenden Überarbeitung der hessischen Landesverfassung nehmen jetzt CDU, SPD, Grüne und FDP. So hat dieser Tage im Wiesbadener Landtag die Enquetekommission »Verfassungskonvent zur Änderung der Verfassung des Landes Hessen« ihre Arbeit aufgenommen. Die Kommission soll jetzt ein Konzept für eine breite Beteiligung der Bevölkerung erarbeiten und gesellschaftliche Gruppen für die Mitarbeit in einem »Beratungsgremium Zivilgesellschaft« und in regionalen Bürgerforen erwärmen. Die oppositionelle Linksfraktion fürchtet indes, dass am Ende des Prozesses eine Überhöhung der neoliberalen Marktwirtschaft als Staatsziel herauskommt und kündigt vorsorglich ihren Widerstand an.

Die Hessische Landesverfassung ist knapp 70 Jahre alt und gilt als eine der fortschrittlichsten Länderverfassungen der Republik. Sie war 1946 von der gewählten Verfassungsgebenden Versammlung ausgearbeitet und später in einer Volksabstimmung mit breiter Mehrheit angenommen worden. Nachdem eine aggressive Mischung aus Faschismus, Kapitalismus und Militarismus Deutschland und die Welt in die Katastrophe gestürzt hatte, waren viele Verfassungsartikel durchdrungen von der Sehnsucht nach einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit und nach einem echten Neuanfang.

Dies entsprach der Stimmung in der Bevölkerung bis weit hinein in die Reihen der CDU. So enthält die Verfassung gewerkschaftliche Forderungen wie das Verbot der Aussperrung von Arbeitnehmern durch Unternehmen in Arbeitskämpfen, ein Recht auf Arbeit, auf einen existenzsichernden Lohn, ein einheitliches Arbeitsrecht für Arbeiter, Angestellte und Beamte sowie unentgeltliche Bildung für alle. Ein Jahr nach Kriegsende sprachen sich die Väter und Mütter der Verfassung für eine Ächtung von Kriegen, die Sozialisierung von Grundstoffindustrien und Eisenbahnen und Staatsaufsicht über Großbanken und Versicherungsunternehmen aus. Bei erwiesenem Missbrauch wirtschaftlicher Macht ist eine Enteignung von Vermögen möglich.

Diese Landesverfassung wurde auf Empfehlung von SPD, CDU und KPD und gegen den Rat der FDP in einer Volksabstimmung von über 76 Prozent der Wähler angenommen und trat in Kraft. Weil den US-Militärbehörden die in Artikel 41 geforderten Sozialisierungen in den Bereichen Schwerindustrie, Energie und Verkehr ein Dorn im Auge waren, ordneten sie eine separate Abstimmung über diesen »Sozialisierungsartikel« an. Dabei sprachen sich zu ihrer Überraschung 72 Prozent für Artikel 41 aus. Eine Umsetzung fand jedoch nie statt.

Einen Vorwand für die heutigen Befürworter einer »Entrümpelung« der Verfassung ist der Artikel 21, der - unter dem frischen Eindruck von Nazi- und Kriegsterror verfasst - bei besonders schweren Verbrechen die Todesstrafe vorsieht. Da Bundesrecht Landesrecht bricht, ist diese Bestimmung durch das Grundgesetz von 1949 jedoch längst außer Kraft.

Hessen ist das einzige Bundesland, in dem das Wahlvolk bei Verfassungsänderungen das letzte Wort hat. So wurden per Volksabstimmung immer wieder kleinere Ergänzungen vorgenommen, letztmalig im März 2011. Damals wurde auf Empfehlung von CDU, SPD, Grünen und FDP eine Schuldenbremse mit 70 Prozent Zustimmung in die Verfassung aufgenommen. Gewerkschaften, Sozialverbände und LINKE unterlagen dabei mit ihrer Nein-Kampagne. Fünf Jahre später allerdings hat die Hessen-SPD hier offenbar kalte Füße bekommen und rückt vorsichtig vom strikten Gebot der Schuldenbremse ab. »Nicht die Würde der schwarzen Null, sondern die der Menschen sei unantastbar«, so SPD- Landes- und Fraktionschef Thorsten Schäfer-Gümbel kürzlich im Deutschlandfunk.

In der Vergangenheit weniger umstritten waren kleinere Verfassungsänderungen wie das Wahlrecht ab 18, die Direktwahl von Oberbürgermeistern, Bürgermeistern und Landräten, das Staatsziel Sport oder eine Verlängerung der Legislaturperiode des Landtags auf fünf Jahre.

Seit Übernahme der Landesregierung 1999 hat die Hessen-CDU, die im Bundesvergleich als besonders konservativ gilt, mehrfach zu einer großen Verfassungsänderung im neoliberalen Sinn ausgeholt. Bisherige Anläufe scheiterten daran, dass eine uneingeschränkte Zustimmung von Gewerkschaften und SPD nicht gegeben war und die CDU daher das Risiko einer Abstimmungsniederlage scheute.

Ob die hessische SPD-Fraktion nun bei einer »Entsorgung« der sozialen und antikapitalistischen Verfassungsgebote mit anpackt, wird sich zeigen. Man wolle den »besonderen historische Kern« der Verfassung und die »sozialen und freiheitlichen Grundrechte« erhalten, verspricht ihr Obmann in der Enquetekommission, Norbert Schmitt. Seine Partei wolle auch die Rechte der Opposition bei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen oder die Kontrollrechte über Geheimdiensttätigkeiten verbessern, so Schmitt.

LINKE-Fraktionschef Willi van Ooyen erklärte mit Blick auf den »Verfassungskonvent«: »Wir werden den friedenspolitischen Geist und die soziale Ordnung der Gesellschaft, wie sie in der Hessischen Verfassung festgelegt wurden, verteidigen und dafür im Landtag und außerhalb aktiv sein.«

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