Vorsicht, Geschmackspolizei!

Im Streit um den Satiriker Böhmermann gibt es plötzlich Unmengen von Satire-Experten

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 3 Min.

Beim Grenzenziehen, auch dem sogenannter Satiregrenzen, sind die Deutschen traditionell Weltmeister. Auch die Bundeskanzlerin, von Haus aus Physikerin, ist kürzlich, bisher von einer größeren Öffentlichkeit unbemerkt, unter die Kunst- und Satiresachverständigen gegangen. Ein Gedicht des Satirikers Jan Böhmermann, das in einen insgesamt ca. fünfminütigen Beitrag des Senders ZDFneo eingebettet war, nannte Angela Merkel (CDU) »bewusst verletzend« und legitimierte dergestalt die derzeitigen aggressiven Versuche des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, seine Medienzensurbestrebungen nach Deutschland auszudehnen.

Die Posse beschäftigt nun auch die Justiz: Die Mainzer Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsverfahren gegen das ZDF und den Satiriker eingeleitet, der - kein Witz! - unter »Verdacht« steht, den »Vertreter eines ausländischen Staates beleidigt« zu haben.

An die Tatsache, dass es ein zentrales Wesensmerkmal einer Satire sein kann, »verletzend« zu sein, sollte man in einer ständig mit ihrer Aufgeklärtheit und Modernität hausieren gehenden Gesellschaft wie der hiesigen nicht alle paar Tage aufs Neue erinnern müssen. Derzeit aber muss man dies unentwegt, was kein gutes Licht auf die angebliche Fortschrittlichkeit und den hohen Bildungsgrad hierzulande wirft.

Zwar kann man davon ausgehen, dass die von Merkel gewählte Formulierung »bewusst verletzend« nur als Platzhalter fungiert für ein diffuses »gefällt mir nicht«. Schließlich soll ihr Kumpel Erdogan zurzeit bei der rigorosen Durchsetzung von Deutschlands restriktiver Flüchtlingspolitik helfen. Doch impliziert die Formulierung »verletzend« auch die irrige Idee, es seien unerträgliche Schmerzen verursacht worden.

So gesehen: Ich beispielsweise empfinde bei genauerer Betrachtung nicht nur die hauptsächlich aus gedroschenem Sprachstroh (»wir«, »gemeinsam«, »Zukunft«) und Fußball-Metaphern bestehende Angela-Merkel-Rhetorik als verletzend, sondern auch die fragwürdigen Geschmacksurteile größenwahnsinniger Schnauzbartträger zu Gegenständen der Kunst. Dennoch kam ich bisher nicht auf die groteske Idee, die Bundeskanzlerin oder den »Türken-Hitler« (»Titanic«) zu mir nach Hause einzubestellen und ihnen Vorlesungen über die Theorie und Geschichte diverser literarischer Gattungen zu halten.

Es gibt schließlich auch gute Gründe, warum ich öffentliche Äußerungen über Kraftfahrzeugtechnik oder Herrenfußball unterlasse. Derzeit ist jedoch täglich zu beobachten, dass sich unberufene Personen, also etwa, wie in diesem Fall, Physikerinnen oder streng religiöse Verwaltungswissenschaftler, plötzlich ermutigt fühlen, sich zu Dingen zu äußern, von denen sie nichts verstehen.

Zu beobachten ist auch, dass das sogenannte Schmähgedicht hierbei völlig aus dem Kontext des kunstvoll verschachtelten Satirebeitrags, in dem es steht, gelöst und isoliert betrachtet wird. Die formale Besonderheit des Böhmermann-Beitrags, das nicht selten gelungener Satire eigene Spiel mit diversen Metaebenen, die vom Rezipienten erst erfasst und verknüpft werden müssen, ist anscheinend von den meisten, die sich bisher zu der Causa geäußert haben, nicht annähernd begriffen worden.

Vielmehr konzentriert sich die bisherige Beschäftigung mit der in Rede stehenden ZDF-Satire stur und unter Missachtung sämtlicher Regeln medienwissenschaftlicher Analyse und Interpretation auf das darin enthaltene sogenannte »Schmähgedicht«. Was ungefähr so ist, als schnitte man aus einem Gemälde Michelangelos die Stellen, die Geschlechtsteile zeigen, hielte sie in die Höhe und schriee so empört wie besinnungslos: »Pornographie!«

Auch Journalisten, deren ureigene Aufgabe darin bestünde, Ansinnen wie die Einschränkung der Kunst- und Meinungsfreiheit zurückzuweisen, betätigen sich derzeit als unausgebildete freiberufliche Kunstrichter und eilfertige Hilfstruppen der Geschmackspolizei.

Frank Überall vom Deutschen Journalistenverband wagte im Deutschlandfunk die Ferndiagnose, dass die sogenannten Satiregrenzen »sicherlich hier im Fall Böhmermann überschritten« seien, und setzte Erdogans Zensurwünsche mit Böhmermanns Satire gleich, indem er von »instinktlosen bewussten Provokationen« sprach.

Der ehemalige »Titanic«-Chefredakteur und heutige Politiker Oliver Maria Schmitt kommentiert diesen Unfug auf Facebook wie folgt: »Auch Überall kann offenbar nicht zwischen Sachaussage (Journalismus) und ironisch gebrochener, grotesk überspitzter Schmähung (Satire) unterscheiden. Trotz seines offenbar sehr feinen Instinkts.«

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