Wie es ist, bleibt es nicht

Der große deutsche Schauspieler Hilmar Thate wird 85

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Hilmar Thate spielte Theater, in DEFA-Filmen, im Fernsehen. Stets blieb er dabei der geistgesteuert 
Brodelnde, der aus den Kiefermuskeln heraus spielen kann. Am Samstag wird der Schauspieler 85 Jahre alt.

Sein breites Lachen hat eine malmende Kraft. Die Stimme betörend dunkler Samt, manchmal fliegen die Töne kieselhart, so dass die Luft schier poltert. Seine gedrungene Wucht geht gern und ganz und gar auf Angriff, aber so unerwartet leicht - und doch auch vorbedacht. In seinem Spiel begegnet der analytische Ehrgeiz einer urwüchsigen Natur. Er blieb stets der geistgesteuert Brodelnde, der aus den Kiefermuskeln heraus spielen kann. Hilmar Thate - ein Bruder Baals, aber einer, der uns oft genug zeigte, dass auch Zügelung und Gefasstheit eine große Sinnlichkeit besitzen können. Er fragt auf jeden Text ein, bis dessen Rationalität erschöpft ist. Seine Kunst setzt gleichsam spielend hinter jede Regung ein Komma, fürs große oder kleine »Aber!«: Einspruch gegen Oberflächenfestlegungen. Ein souverän-freches Flunschmaul, das bei jeder Figur sämtliche Genussfasern zwischen Hirn und Herz geradezu schmatzend abschmeckt.

Von 1958 bis 1970 begeisterte er am Berliner Ensemble. Bei Wekwerth, Palitzsch, Tenschert, Birnbaum. War Givola in Brechts »Aufhaltsamem Aufstieg des Arturo Ui«: ein ölig verratteter Ideologe, der sich über die Brüstung der Rang-Loge fläzte und das »Lied von der Tünche« ins Publikum schmierte. Er brillierte als Pawel in Brechts »Mutter« und als Jean Cabet in den »Tagen der Commune«; das Proletarische besaß eine schwunghafte Schärfe oder einen erschütternden Todesmut - der aus naiver, unbezwinglicher Lebenslust herrührte. Er war Galy Gay in Brechts »Mann ist Mann«: Einer geht einkaufen und wird eingekauft - Verwandlung eines Kleinbürgers in einen mordenden Söldner. Verwandlung? Charakter wandelt sich nicht, er verrät sich.

Thate spielte bei der DEFA, im Fernsehen, etwa den Gleb Tschumalow (»Zement«), den Alexei (»Optimistische Tragödie«), unvergesslich auch: sein Novemberrevolutionär in »Fleur Lafontaine«, sein »Daniel Druskat«. Legendär der Richard III. 1972 am Deutschen Theater (Regie: Manfred Wekwerth): ein un-verschämter Publikumskumpan, ein horrend furchtbarer und furchtsamer Sisyphos der amoralischen Heiterkeit und absurden Grausamkeit. Ein hinkender Tänzer im Blut, liebenswürdig noch im größten Schrecken, aber je liebenswürdiger, desto schrecklicher.

Geboren wird der Schauspieler 1931 in Döhlau bei Halle, die Mutter ist in der Landwirtschaft tätig, der Vater in einer Maschinenschlosserei. Thate, ein Arbeiter- und Bauernkind. Von Aufbrüchen getragen, von Stürzen geprüft. Er verließ in den späten Siebzigern die DDR, gemeinsam mit seiner Frau Angelica Domröse. Zwei, die in Ausübung ihrer Kunst nicht ohne jene Bewusstseinskraft auskommen wollten, die den politischen Kontext einer Arbeit immer mitdenkt - indem man sich freilich auch gestattet, an diesem Kontext zu zweifeln. Zwei also, die nicht verzweifeln wollten am Endstadium des Regimes: an versifften Fundamenten, an verordneter Lüge und seelischer Vergröberung. Thate vor geraumer Zeit im nd-Interview: »Ich sollte meine Unterschrift gegen den Biermann-Rauswurf zurücknehmen, wegen mir gab’s eine Vollversammlung der Akademie. Ich sagte: Nein! Dann war ich arbeitslos. Bei mir dachten die, sie würden mich rumkriegen, auch, weil ich im Fernsehen proletarische Rollen gespielt hatte. Der Lamberz vom Politbüro sagte zu mir, nicht er würde beim Gang durch Berlin gegrüßt, sondern ich - schlimm sei das, wir würden wie ›Rattenfänger‹ wirken, das müsse endlich unterbunden werden. Geht’s verächtlicher - und verachtenswerter?«

Er hat dann Theater in Bochum Stuttgart, Hamburg, Basel, Wien, Westberlin gespielt. Bei Zadek und Tabori, bei Matthias Langhoff und Bergman. Die Rollen, unter anderem: Tartuffe, Titus Andronicus, Sganarelle, Stalin, Mephisto. Ins Komödiantische warf er sich mit der verbrennenden Geste eines Tragöden, und alles Tragische besaß noch im heranbrausenden Schatten den aufhellenden Witz der Lustigen Person. Er filmte bei Fassbinder, Brasch, Haneke und Wedel, einen »Tatort«-Kommissar freilich lehnte er ab - nie verfiel er einer Popularität, die ihn hätte trennen können von seiner Gabe und Geduld für etwas Unzeitgemäßes: nämlich jene Vorsicht, die Haltungsschäden verhindert. Eine Mitgift aus der Zeit der erwähnten Aufbrüche.

Am Berliner Ensemble war Thate nicht schlechthin der große Schauspieler, er hatte gleichsam in einer fordernden Philosophie existiert. »Brigadehäupter« nannte Helene Weigel ihn und Ekkehard Schall. Zwei Protagonisten eines beglückend sportiven Weltruhms. »Coriolan«: Schall in der Titelrolle, Thate als Aufidius. Feldherren? Weit mehr. Jeder von beiden ein neuronaler Gewaltakt; der eine gegen den anderen eine tickende Bombe, die Lunte war in der Großhirnrinde gelegt - jeder Monolog eine Flugbahnberechnung, jeder Dialog eine Zündung. Unvergesslich grandios.

Besagte Philosophie am BE machte ihn groß, und Leute wie er erhoben diese Philosophie ins beglückende Abenteuer. Damit war mehr als nur Theater, damit war Freundlichkeit als das betörendste, beschwerlichste Menschenmögliche gemeint. Und dort liegt eine Ursache, warum Thate letztlich nie wieder in einem festen Ensemble Wurzeln schlagen mochte und also bald auch im Westen der Sperrige wurde. Denn er wollte in den wichtigsten Punkten, die eine Künstlerlaufbahn betreffen, fundamental, elementar bleiben. Er wollte Grund behalten, auf Herkünfte verweisen zu können. In jenem Genossen, der nach der Wende zum fatal-brutalen Rächer und Ordnungsschaffer wird (im Film »Wege in die Nacht« von Andreas Kleinert), erfasste Thate dann auf beklemmend einfühlsame Weise und in erdenschwer-bösem Ernst das Schicksal eines Menschen, der - ausgeliefert dem Unter- und Überdruck der westlichen Neuzeit - just diese Bindung an die eigenen Wurzeln verlor.

Hilmar Thate gebar mit seinem bohrenden, treibenden Temperament so etwas wie eine neuzeitliche plebejische Grazie, er entwickelte eine kämpferische Romantik, die sehr viel mit Brecht zu tun hatte: Wie es ist, bleibt es nicht. An diesem Sonntag wird dieser bedeutende deutsche Schauspieler 85 Jahre alt.

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