Ein Jahr Mutter der Kommunalpolitik
Neuköllns Bürgermeisterin Franziska Giffey zog Bilanz
Fast die Hälfte der Kinder unter 15 Jahren sind Empfänger von Sozialleistungen, 17 Prozent der Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss, die Arbeitslosenquote aller Bewohner liegt bei 15,2 Prozent. Die Rede ist von Neukölln, Berlins berühmtesten Problembezirk seit dem Rütli-Schulen-Brandbrief vor zehn Jahren.
Seitdem baut Neukölln nicht nur an einem Vorzeige-Rütli-Campus, sondern auch an seinem Ruf. Obwohl der sich in den vergangenen Jahren stark verändert hat, sind die Probleme noch immer da. Und weil Neukölln heute als Szenebezirk gilt, Englisch in der Weserstraße und an der Schillerpromenade bessere Verständigung verspricht als Deutsch, Arabisch oder Türkisch, und sich (ehemalige) Show-Biz-Größen wie Tricky (Ex-Massive Attack) Lofts in den renovierten Gründerzeitbauten kaufen, kommt noch das Problem der Verdrängung hinzu.
Wie führt man einen solchen Bezirk? Noch dazu als Erbin des bekannten und langjährigen Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky (SPD)? Ein Jahr ist Franziska Giffey (SPD) im Amt. Am Freitag zog sie Bilanz. Wie immer sieht sie ausgeruht aus, adrett frisiert und heute in blassrotem Kostüm, das Neuköllner Wappen am Revers. «Dass es nicht einfach werden würde, war sowieso klar», sagt sie über ein Jahr Regierungszeit. Aber sie sei gut eingearbeitet worden und habe ein tolles Team übernommen. 370 Vor-Ort-Termine hat sie hinter sich, ganz nach Buschkowskys Motto: «Die Mutter der Kommunalpolitik ist die Anschauung vor Ort.» Sie wolle Stimmungen aufnehmen und Probleme aus erster Hand hören. Als Anhängerin der Schwarm-Intelligenz hält Giffey auch viel vom Online-Ordnungsamt, über das die Neuköllner Ordnungswidrigkeiten melden können. Das größte Problem in dem Bereich: der Müll. «Wir stehen auf der Hitliste illegaler Müllablagerungen ganz oben», sagt Giffey. Wo besonders häufig Kühlschränke, Matratzen und Co. gemeldet werden, soll künftig das Ordnungsamt mehr Präsenz zeigen. Im ganzen Bezirk soll die Kampagne «Schön wie wir» Bewusstsein für das Problem wecken. Dass die meisten Meldungen aus den frisch gentrifizierten Kiezen um die Reuterstraße und die Schillerpromenade stammen, ist sicherlich kein Zufall. Auch nicht, dass sich dort die meisten Menschen für einen sogenannten Milieuschutz engagiert haben, der gegen steigende Mieten wirken soll.
Um Integration und Bildungschancen von Anfang an zu gewährleisten, würde Giffey am liebsten die Kita-Pflicht einführen. Deutsch lernen sollen jedenfalls alle. Deshalb dürfe in Neukölln jeder an Sprachkursen teilnehmen, auch Afghanen, die zu Integrationskursen nicht zugelassen werden. «Wir dürfen nicht die gleichen Fehler machen wie früher», sagt Giffey. Dass es heute kriminelle Großfamilien gebe, liege auch daran, dass die Menschen hier ankamen, aber nicht arbeiten durften. «Sie haben sich deshalb andere Wege gesucht, um an Geld zu kommen. Dass Menschen ihre Wünsche erfüllen wollen, ist schließlich natürlich.» Giffey scheint sich ihren erfüllt zu haben: «Ich arbeite mit großer Freude - und Respekt vor der Aufgabe.
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