Deutsche, Russen und der Winter

1946 kehrten die ersten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion heim. Von Klaus J. Herrmann

  • Klaus J. Herrmann
  • Lesedauer: 7 Min.

Wie fern sind Moskau, Russland, die Russen? Im Flug Berlin-Moskau nur drei Stunden. Drei Tage mit dem Auto. Wie weit zu Fuß, gar in Stiefeln, hin und zurück?

»Weißt du, warum ihr den Krieg verloren habt?«, fragt der ältere Herr am Grill. Ein Wintertag vor Moskau, krachender Frost und eine bunte Runde an dem zugefrorenen Kljasma-Stausee. Der Wodka ist schneegekühlt, fließt wie Likör. »Na ja, weil ...« Der russische Nachbar fällt ins unausgesprochene Wort: »Die Kälte! Ihr könnt mit der Kälte nicht umgehen.« Er schiebt den Pappkarton rüber. »Nimm, stell’ die Füße rein!« Nach wenigen Minuten sind sie warm. »Nu smotri!« - Siehst du!

Das ist mehr als freundlicher Rat und nette Geste. Der Gast ist Deutscher. Der Hausherr, also Chosjain, ist Russe. Nicht nur an diesem Feuer. Das wurde für den zufälligen Besucher wieder angefacht. Was war, ist gewesen und soll Geschichte sein. Nicht ein einziges Mal in fast zehn Moskauer Jahren wird dem Gast für tückischen Überfall, millionenfache Mord- und Untaten des Landes seiner Herkunft Demut abgefordert, keine Rechenschaft, Erklärung, Entschuldigung - nicht als Deutschem aus der DDR, nicht als Bundesdeutschem. DDR-Herkunft erleichtert das Miteinander: Wir sind trotz aller Untergänge für Russen lange noch »Naschi« - Unsere!

Der Umgang mit Kälte bietet gewiss nicht die ganze Erklärung für den Ausgang des Zweiten Weltkrieges. Die Deutschen waren nicht nur »der Übermacht des Feindes und der Ungunst der Verhältnisse erlegen«, wie das »Führerhauptquartier« am 3. Februar 1943 als Erklärung für das Ende der Schlacht um Stalingrad verbreitete. Kälte, Übermacht und Ungunst der Verhältnisse können aber durchaus Hinweise darauf sein, mit wem und womit es Deutsche so alles zu tun hatten. Am 22. Juni 1946 kehren die ersten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion heim.

Mehr Gründe als genug, nachzudenken »Ueber ›die Russen‹ und über uns«. Das unternimmt im SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« am 19. November 1948 Rudolf Herrnstadt, und es bekommt ihm übel. Zwar wird er erst ND-Chefredakteur und Kandidat des Politbüros, dann aber im Juli 1953 aller Ämter enthoben und in Merseburg als Archivar versteckt.

Dabei macht er auf der eng bedruckten Seite 4 kompromisslosen Klassenkampf, ficht für ein »rückhaltloses Bekenntnis«, »uneingeschränkte Unterstützung« der »unerschöpflichen Kraftquelle der Arbeiterbewegung« und macht Front gegen »antisowjetische Propaganda«. Doch Russen heißen bei ihm Russen, und an einer Stelle räumt er ein, sie kamen »in klobigen Stiefeln, an denen der Dreck der Historie klebte, entschlossen, entzündet, gewarnt, geweitet, in Teilen auch verroht ...«.

Natürlich gebe es in der Sowjetunion nicht nur Gutes, Schönes, Edles, natürlich noch Schlechtes, schreibt Herrnstadt und zählt auf: Tagediebe und Bürokraten, Karrieristen und Gauner, Mörder. Hier bricht Realismus das Tabu, offenbart sich Verständnis statt Vorurteil, Sachlichkeit statt Ideologie - ein allzeit kreuzgefährlicher Cocktail.

An- und Weltsichten, Erfahrungen können historisch sein und auch sehr persönlich, prägend. Ein Rotarmist reitet 1945 in Dresden am Fuchsberg 8 ein, so ein väterlicher Bericht. Leute kommen zögernd aus den Häusern, umringen den Soldaten. Der deutet auf die Umstehenden, jeden einzeln: »Du Nazi?« Der so Bezeichnete beteuert: »Nein, niemals!« All die anderen auch nicht. Der Sieger macht eine wegwerfende Geste, spuckt aus, verschwindet wortlos. Was den einen Befreiung, war anderen Niederlage, Demütigung, Besatzung.

Der Zweite Weltkrieg begann mit dem Überfall des faschistischen Deutschland auf Polen, wo nach dem Hitler-Stalin-Nichtangriffspakt vom August 1939 die Rote Armee von Osten her einrückt und damit dessen Ende besiegelt. Mit dem »Blitzkrieg« - bezeichnendes deutsches Lehnwort im Russischen und Englischen - und dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion geht es unter Bruch aller Verträge für Hitler 1941 weiter. Die Zahl allein der Opfer der Sowjetunion beträgt am Ende 27 Millionen Menschen.

Gerade den Deutschen sollte all das etwas mehr Verständnis für ein besonderes Sicherheitsbedürfnis der Russen angesichts des Vorrückens der NATO an deren Grenzen wert sein - besser noch eine sorgsam gepflegte und dauerhafte Aussöhnung wie mit Frankreich und ein auf seine Art ebenfalls ganz besonderes Verhältnis wie mit Israel.

Worte, Urteile und Wahrheiten sollten Verständnis voraussetzen - von Umständen, Zuständen, Menschen. Verständnis bedarf der Verständigung, diese der Sprache. DDR-Kinder lernten Russisch in der Schule. Kein Zufall und eine gute Sache. Wäre da nicht auch die unheilvoll stirnrunzelnd gestellte Frage anlässlich, zugegeben mieser, Russischleistung des angehenden Abiturienten nach dessen »Haltung zur Sowjetunion«.

Trotz sprachlicher Besserung in den Jahren als letzter ständiger eigener Korrespondent dieser Zeitung in der sowjetischen und dann russischen Hauptstadt Moskau werden Fragen mehr und nicht weniger - auch an den Berichterstatter. Der ist Lesern mal linientreu, mal glasnost-infiziert, mal im Gegenteil perestroika- und sowjetfeindlich, bürgerlich, dann schließlich sogar Versteher. Da hängt sicher auch manche Färbung vom Ton ab. Zu gewissen Zeiten auch die journalistische Existenz - wäre das Zentralorgan noch etwas länger Zentralorgan geblieben.

»Versteher« erscheint dem so Gescholtenen nicht als übelste Wertung. Auch wenn dazu Beimengungen an Stirnrunzeln und zuweilen spöttisch-geringschätzige Kenntnisgabe anderer Ansicht gehören. Immerhin reiste der ins Legendäre erhobene Ex-Kanzler Helmut Schmidt mitten im Kalten Krieg privat durch das Sowjetland bis Moskau, um es besser zu verstehen. Brandt-Berater Egon Bahr verließ in Moskau eine verdutzte Delegation, stieg in einen schwarzen Funktionärs-»Tschaika«, um eigene Wege zu erkunden. Die Ostpolitik machte die Welt dann sicherer.

Russland besser verstehen wollte dort in den »wilden Neunzigern« der Großunternehmer Edzard Reuter. Dazu lud er sich eine Runde deutscher Moskau-Korrespondenten der auch politisch verschiedensten Medien - »ND« am Tisch neben ZDF - ein, um sie zu fragen: Wie sehen Sie ..., was halten Sie von ...?

Einen Russlandbeauftragten der Bundesregierung, wie hieß er noch gleich, könnte man sich gerade heute in schwieriger Zeit in solch einer erklärenden Rolle vorstellen. Doch Gernot Erler fällt nach einigen Ansätzen dafür offenbar aus. »Putins Politik muss uns nicht gefallen. Aber wir müssen sie aus der Geschichte verstehen und ernst nehmen«, hinterließ auch ihm Helmut Schmidt.

Diesem Rat zu folgen, misslingt Angela Merkel am 10. Mai im Umfeld der russischen Feier des 70. Jahrestages des Sieges in Moskau gründlich. Ausgerechnet an diesem Tag versieht ausgerechnet die deutsche Bundeskanzlerin ausgerechnet im Kreml die Krimpolitik des neben ihr stehenden russischen Präsidenten in wohl beispielloser Weise mit dem Attribut »verbrecherisch«.

Manches bleibt einfach eine Sache von Ort und Zeit, und der Zugriff auf die Sprache des anderen sichert noch lange kein gegenseitiges Verständnis. Von sprachlicher und anderer Nähe ist seither nicht mehr die Rede. Vielleicht kommt es genau hier endgültig zur deutsch-russischen Wende zum Schlechteren. Bundespräsident Joachim Gauck hat daran eifrig mitgewirkt. Er verschweigt in seiner Gedenkrede zum Jahrestag des Kriegsbeginns die Millionen Toten der Sowjetunion. Stattdessen spart er nicht an Kritik für Russlands Präsidenten. Deutschlands Staatsoberhaupt hält sich demonstrativ fern von Moskau.

Da bleibt dem Kabarettisten Volker Pispers die Aufklärung vorbehalten, dass »Russland den Westen nie überfallen hat - in der ganzen Geschichte noch nicht. Schon Napoleon musste bis Moskau marschieren, um die Russen aus Paris zu vertreiben.« In der Ukrainekrise proben deutsche öffentlich-rechtliche Zuschauer 2014 den Aufstand. Es geht um eine »tendenziell gegen Russland und die russischen Positionen« gerichtete Berichterstattung. Die sei, wie der ARD-Programmbeirat sekundiert, »fragmentarisch«, »tendenziös«, »mangelhaft« und »einseitig«. Das trifft auch viele andere Medien. Die »Rebellion unter den Lesern«, prophezeit die »Neue Zürcher Zeitung«, werde wohl anhalten.

»Vieles ist irrational«, klagt Matthias Platzeck, Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums. »Die Verständigungsprobleme nehmen zu und führen zu Vorwürfen und Anschuldigungen.« Für den Westen sei »nach dem Ende der Sowjetunion endgültig zur Gewissheit geworden, dass er über die besseren Werte und das überlegene System verfügt«. Doch für Russland kämen auch andere Entwicklungswege in Betracht. »Wir werden umdenken und lernen müssen, diese Wege zu respektieren, auch wenn sie nicht immer mit unseren Idealen übereinstimmen.«

Man spricht Deutsch im Kreml, zumindest Hausherr Putin. Der kann es aus seiner Zeit in der DDR und legt Wert darauf. Hätte er sonst beide Töchter an der Deutschen Schule Moskau lernen lassen? Auch spricht er es absichtsvoll zu bedeutsamen Anlässen. So am 25. September 2001 vor dem Deutschen Bundestag: »Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.«

Beifall verzeichnet das Protokoll des Deutschen Bundestages an dieser Stelle. Doch das historische Angebot ist ausgeschlagen. Es ist vielleicht wie mit der Kälte eines russischen Wintertages: Ihr könnt damit nicht umgehen!

Klaus J. Herrmann, Jahrgang 1953, ist Auslandsredakteur des »nd« und hat von 1988 bis 1997 als Korrespondent in Moskau gearbeitet.

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