Notfallpläne nur auf dem Papier?

Chirurgen halten Kliniken nicht überall ausreichend auf die Anforderungen nach Terroranschlägen vorbereitet

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.
Ist Deutschland auf Terroranschläge medizinisch gut vorbereitet? Auf dem Chirurgenkongress vergangene Woche in Berlin hieß die Antwort auf diese Frage: nein.

Spätestens nach den Anschlägen von Brüssel im März mit 35 Toten und 320 zum großen Teil schwer Verletzten ergibt sich auch für die Mediziner in der Bundesrepublik die Notwendigkeit, sich mit den Folgen möglicher Terrorakte auseinanderzusetzen. Zu dieser Schlussfolgerung gelangte der Sekretär der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV), Heinz-Johannes Buhr, auf dem Jahreskongress der Chirurgen, der am Freitag in Berlin zu Ende ging. Buhr zufolge fehlen weitgehend Kenntnisse über die Verletzungsmuster von Menschen nach Explosionen und Schusswaffengebrauch. In den Kliniken sei man zu meist nicht ausreichend auf Katastrophen solcher Art vorbereitet. Auch fehle es an Wissen über die psychologische und kommunikative Betreuung von Angehörigen, gering Verletzten und dem eigenem Personal.

Um das zu vermitteln, führte die DGAV gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft Militär- und Notfallchirurgie in diesem Jahr zwei Seminare durch, denen weitere folgen sollen. Bei den Veranstaltungen in Berlin und Koblenz ging es zunächst um Explosionsverletzungen, bei denen die je 80 teilnehmenden Chirurgen »im Verlauf immer ruhiger und respektvoller« wurden - angesichts der Schwere der Schäden und der Behandlungsmöglichkeiten, so Buhr, der selbst ein erfahrener Unfallchirurg ist. Weiterhin wurden in den Seminaren detaillierte Notfallpläne behandelt. Für diese müssten die Verantwortlichen der Krankenhäuser auch relativ einfache Dinge organisieren - etwa, wie das eigene Personal bei Straßensperren noch die Klinik erreichen kann. In der Notaufnahme müsste bereits die Sichtung und Einteilung der Patienten nach der Schwere der Verletzungen, die Triage, organisiert werden. An diesen Platz, so Buhr, gehöre der erfahrenste Arzt der Klinik. Ein weiterer Teil der Seminare ist der Kommunikation gewidmet: »Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wie wir damit umgehen, wenn wir 600 Angehörige von 300 Schwerverletzten im Haus haben.« Buhr nannte als - bisher zum Glück eher ungewohnte - medizinische Herausforderung die mehrfache Traumatisierung etwa durch Splitterbomben.

In den Krankenhäusern müssten Notfallpläne aktualisiert werden, sagt der Chirurg. Dazu wäre es hilfreich zu analysieren, wie die Kollegen in Paris nach den Anschlägen im November 2015 mit Hunderten Toten und Verletzten vorgegangen seien. Laut eines detaillierten Berichts in der Fachzeitschrift »Lancet« konnten die Franzosen die Versorgung der Verletzten auf hohem Niveau sichern. Das war möglich, weil in Paris ein Netzwerk mit 40 öffentlichen Kliniken und insgesamt 100 000 Beschäftigten alarmiert wurde. Der unmittelbar in Kraft gesetzte Notfallplan war schon vor 20 Jahren entwickelt worden, erfüllte aber seine Aufgabe. Alle beteiligten Krankenhäuser wurden mobilisiert, zusätzliches Personal in die Kliniken gerufen sowie nicht dringend benötigte Betten freigemacht. Um die hervorragende Leistung der Franzosen zu erreichen, müssten laut Buhr benötigte Materialien ausreichend vorhanden sein und regelmäßige Übungen stattfinden. In Berlin sei letzteres bisher vorbildlich erfolgt, erklärte der Mediziner, der mehrere Jahre Direktor einer Chirurgischen Klinik an der Charité war.

Die entsprechenden Notfallpläne für die Krankenhäuser werden nach Vorgaben der jeweiligen Bundesländer erstellt. Buhr hatte bis vor wenigen Monaten den Eindruck, dass die Krankenhausverwaltungen eher davon ausgingen, »dass eh nichts passiert«. Das letzte verheerende Unglück hatte sich in der Bundesrepublik 1988 bei einem Flugtag in Ramstein ereignet, als drei Maschinen ineinander rasten und ins Publikum stürzten. 70 Menschen starben, 1000 wurden verletzt, von denen 450 in Krankenhäusern versorgt werden mussten.

Beim Katastrophenschutz werden die Länder im medizinischen Bereich vom Bund unterstützt: Bei großen Verletztenzahlen können Spezialfahrzeuge für eine medizinische Task Force gestellt werden. Krankenhäuser sind verpflichtet, Alarm- und Einsatzpläne aufzustellen, heißt es aus dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BKK) auf nd-Anfrage. Es würden seit Jahren Seminare und Workshops zur Vorbereitung der Krankenhäuser durchgeführt, »die auf großes Interesse stoßen«, so ein Sprecher. Die Neuauflage eines Leitfadens für die Krankenhausalarmplanung steht für 2017 an. Darüber hinaus organisiere die BKK-Akademie für Mai ein Forum, in dem die neuesten Entwicklungen ausgewertet werden. Ein Rahmenkonzept für das Zusammenwirken aller Hilfsorganisationen und sonstiger Beteiligter soll noch in diesem Jahr überarbeitet werden.

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