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»Babyboomer« erreichen das Rentenalter – und nun?
Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung sind mit großer Unsicherheit behaftet
Menschen in Deutschland suchen besonders häufig eine Arztpraxis auf. Das zeigt eine neue Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Auffällig ist, dass die Bundesrepublik gleichzeitig bei der Lebenserwartung nur einen mittleren Rang in Europa belegt. In Ländern mit einer höheren Lebenserwartung wie etwa Frankreich, der Schweiz oder Spanien gehen die Menschen seltener zum Arzt. Bei solchen Vergleichen muss allerdings berücksichtigt werden, dass sich Bevölkerungen unter anderem hinsichtlich ihrer Altersstruktur unterscheiden. Gibt es mehr ältere Personen, ist mit einer höheren Zahl von Praxisbesuchen zu rechnen.
Die zukünftige Bevölkerungsentwicklung ist daher für den Umbau des Gesundheitssystems von großer Bedeutung. Schließlich werden Krankenhäuser nicht von heute auf morgen geschlossen und Ärzte nicht in wenigen Jahren ausgebildet. Vor ähnlich langfristigen Herausforderungen stehen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, wenn es um Bildung und Infrastruktur geht. Im Rückblick sind viele Regierungen an diesen Aufgaben gescheitert. Amtshilfe bietet nun das Statistische Bundesamt (Destatis) in Wiesbaden an. Auf einer Pressekonferenz in Berlin veröffentlichten die Statistiker am Donnerstag ihre 16. Bevölkerungsvorausberechnung.
»Die Generation der Babyboomer befindet sich mitten im Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand.«
Karsten Lummer Statistisches Bundesamt
In Deutschland vollziehen sich tiefgreifende demografische Veränderungen. »Die Generation der Babyboomer befindet sich mitten im Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand«, sagte Karsten Lummer, Leiter der Abteilung »Bevölkerung« im Statistischen Bundesamt. Auf die »Babyboomer« folgen deutlich kleinere Jahrgänge. Das verändert die Bevölkerungspyramide. »Die Zahl der 67-Jährigen und Älteren wird in allen Berechnungsvarianten bis zum Jahr 2038 beständig steigen«, erklärt Elke Loichinger, Leiterin des Referats »Demografische Analysen und Modellrechnungen, natürliche Bevölkerungsbewegungen«. Dann könnten je nach Szenario 20,5 bis 21,3 Millionen Menschen im Rentenalter sein. Das sind 3,8 bis 4,5 Millionen mehr als heute.
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Bei der Lebenserwartung sind die Wiesbadener Statistiker optimistisch. Was überrascht, da zuletzt die Lebenserwartung in Deutschland – wohl aufgrund zunehmender sogenannter Zivilisationskrankheiten wie Drogenabhängigkeit oder Adipositas – eher stagnierte, in einigen Industriestaaten wie den USA sogar sank. Gegenüber früheren Prognosen habe die »wissenschaftliche Unsicherheit« zugenommen, klagt denn auch Lummer. Vor diesem Hintergrund wurden Annahmen zur Geburtenhäufigkeit, Lebenserwartung und Migration getroffen und daraus 27 Varianten modelliert, um die Zukunft bis zum Jahr 2070 vorherzusagen.
Die Zahl der Sterbefälle übersteigt seit 2022 die Zahl der Geburten. Das »Geburtendefizit« werde in den 2040er und 2050er Jahren besonders schnell zunehmen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge »das hohe Alter erreichen«, also sterben. Bei einem moderaten Anstieg von Geburtenrate und Lebenserwartung würde die Bevölkerung jedes Jahr um mehr als 600 000 Menschen schrumpfen. Das entspreche ungefähr der Einwohnerzahl von Dortmund oder Leipzig.
Bei aller wissenschaftlichen Neutralität neigt man in Wiesbaden zu einem unterschwelligen Bedauern, wenn es um einen möglichen Bevölkerungsrückgang geht. Dabei könnte dieser im dicht besiedelten Deutschland doch neue (räumliche) Möglichkeiten schaffen oder eine Abkehr vom wirtschaftsliberalen Wachstumsfetischismus begünstigen. Dass solche Prognosen zudem in Teilen auf tönernen Füßen stehen, zeigt eine Untersuchung des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung. Danach lebten zum Stichtag 1,4 Millionen Menschen weniger in Deutschland, als die amtliche Statistik auswies. Einer der Gründe sind unterlassene Abmeldungen nicht mehr in Deutschland wohnhafter Personen.
Migrationsbewegungen sind im Zeitverlauf durch starke Schwankungen gekennzeichnet: Phasen hoher Nettozuwanderung wechselten sich mit Zeiten niedriger Außenwanderungssalden ab. Seit den Neunzigerjahren gab es nahezu in jedem Jahr mehr Zuwanderung als Abwanderung. In allen drei Szenarien erwartet Destatis also eine mehr oder weniger starke Nettozuwanderung von 150 000, 250 000 und 350 000 Personen pro Jahr. Unterm Strich werde die an sich doch erfreuliche Alterung der Menschen – die Statistiker werten diese offenbar eher negativ – durch Zuwanderung nicht entscheidend »abgemildert«, so Destatis. In Deutschland leben 2070 aller Voraussicht nach weniger Menschen als heute. Bei einer moderaten Entwicklung würde die Bevölkerungszahl 74,7 Millionen betragen. Heute sind es offiziell 83,5 Millionen.
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