Die entzauberte Schöpfung

Theologen sehen Darwinsche Evolutionstheorie nicht als Konkurrenzmodell zur Genesis

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.
Es ist erst fünf Jahre her, dass Papst Johannes Paul II. die wichtigste Theorie über die Entstehung und Entwicklung des Lebens, die Evolutionstheorie Darwins, als seriös akzeptiert hat. In einer Botschaft an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften erklärte das Oberhaupt der katholischen Kirche am 24. Oktober 1996: »Neue Erkenntnisse führen zu der Feststellung, dass die Evolutionstheorie mehr als eine Hypothese ist.« Zudem verstoße die Abstammungslehre, entgegen früheren Befürchtungen, nicht gegen katholische Glaubensgrundsätze. Entschieden distanzierte sich der Papst jedoch von der »materialistischen Lesart« der Theorie, wonach Geist und Seele ebenfalls Produkte der Materie seien: »Wenn der menschliche Körper seinen Ursprung in der lebenden Materie hat, die vor ihm existierte, dann ist doch seine Seele unmittelbar von Gott geschaffen.« Nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts für Demoskopie halten 20 Prozent der Deutschen die Abstammungslehre für grundsätzlich verfehlt. 62 Prozent allerdings bekennen sich zu Darwin. Zum Vergleich: 1970 taten dies nur 38 Prozent der Altbundesbürger, 1988 waren es 48 Prozent. Offenkundig haben die Einwände gegen Darwin, die insbesondere von Seiten des Kreationismus direkt aus der Bibel entnommen sind, an Überzeugungskraft verloren. Verstummt ist die religiöse Evolutionskritik indes nicht, und sie erschöpft sich auch keineswegs in der päpstlichen Forderung, man möge zumindest Geist und Seele vor evolutionären Übergriffen verschonen. Nach wie vor wird von zahlreichen »Schöpfungsforschern« die These vertreten, dass so hochkomplexe Gebilde wie lebendige Systeme niemals durch Zufall, sondern allein durch die Realisierung eines zuvor wohl durchdachten Planes entstanden sein können. Wenn das so wäre, entgegnet der Kasseler Evolutionsforscher Ulrich Kutschera, warum sind unsere Gene dann so völlig chaotisch auf dem unermesslich langen DNA-Strang verteilt? Und warum werden über 90 Prozent des Genoms, die man ihrer vermuteten Funktionslosigkeit wegen als »DNA-Müll« bezeichnet, mit großem Energieaufwand von Generation zu Generation weitergegeben? Von einem vollkommenen Schöpfergott würde man sicherlich anderes erwarten. Für weitaus schwer wiegender, weil wissenschaftlich durchaus begründet, halten viele das Argument, die natürliche Entstehung des Lebens scheitere schlicht an der Statistik. So hat der Polymerchemiker Bruno Vollmert ausgerechnet, dass die Wahrscheinlichkeit für die spontane Bildung eines kettenförmigen DNA-Makromoleküls unter präbiotischen Bedingungen kleiner als 1:10 ist. Und das heißt: Sie ist de facto Null. Doch bekanntlich geht heute kein Evolutionsforscher mehr davon aus, dass die DNA gleich als Ganzes da war. Alles spricht dafür, dass die molekulare Evolution sich in kleinen Schritten vollzogen hat. Nach einem Modell des Göttinger Biochemikers Manfred Eigen entstanden zunächst kurze Sequenzen aus DNA-Bausteinen, die die vorhandenen Ressourcen in der »Ursuppe« nutzten, um sich zu reproduzieren und zu vergrößern. Einige Sequenzen umgaben sich außerdem mit einer Schicht von Fettmolekülen und konstituierten auf diese Weise die ersten Protozellen, die von der Selektion unentwegt auf ihre Lebenstüchtigkeit (Fitness) geprüft wurden. Dagegen wird nicht selten eingewandt, dass die Selbstorganisation der Materie den Gesetzen der Physik widerspreche, da insbesondere der zweite Hauptsatz der Thermodynamik natürlichen Prozessen die Tendenz auferlege, ihre Entropie bzw. ihre innere Unordnung zu maximieren. Leider vergessen die meisten Evolutionskritiker hinzuzufügen, dass diese Aussage nur für abgeschlossene Systeme gilt. Lebewesen sind jedoch offene Systeme, die mit ihrer Umgebung beständig Stoff und Energie austauschen und so der inneren Entropiezunahme entgegenwirken. Wie Ulrich Kutschera in seinem Buch »Evolutionsbiologie« (Parey Buchverlag, Berlin 2001, 273 S., 58 DM) betont, fällt die thermodynamische Kritik an der Evolution auf die Schöpfungstheoretiker selbst zurück: »Würde der Entropiesatz für offene, lebende Systeme gelten, so gäbe es überhaupt keine Lebewesen, auch wenn sie auf übernatürliche Weise erschaffen worden wären.« Sofern es darum geht, die Darwinsche Theorie als zweifelhafte Hypothese darzustellen, fehlt ein Argument nie: Da Evolutionsprozesse sehr langsam ablaufen, werde es keinem Forscher jemals gelingen, sie durch Experimente zu bestätigen. Es gibt zweifellos noch viele offene Fragen in der Evolutionsforschung, dennoch wurden gerade in experimenteller Hinsicht in jüngster Zeit erhebliche Fortschritte erzielt. Kutschera: »Laborexperimente mit Bakterien, die unter dem Selektionsfaktor "Glucosearmut" über Tausende von Generationen in Reagenzgläsern kultiviert wurden, haben den auf Mutation und Selektion basierenden Evolutionsmodus bestätigt.« Mehr noch konnte in diesen Versuchen die Fitness einzelner Bakterienstämme quantitativ erfasst werden. Oder anders ausgedrückt: Es lässt sich schon heute in bestimmten Fällen voraussagen, welche Organismen im Daseinskampf gegenüber anderen im Vorteil sind. Um herauszufinden, ob und wieweit die neuerlichen Erfolge der Naturforschung die religiöse Einstellung von Naturwissenschaftlern beeinflussen, haben die US-Soziologen Edward J. Larson und Larry Witham 1998 die Mitglieder der amerikanischen National Academy of Sciences gefragt: Glauben Sie an einen persönlichen Gott? 93 Prozent antworteten mit Nein. Zum Vergleich: 1914 erklärten dies nur rund 70 Prozent, 1933 waren es 85 Prozent. Doch was für Spitzenforscher gilt, trifft nicht in gleicher Weise auf die Wissenschaftler im allgemeinen zu. Hier hat sich der Anteil der Gläubigen seit 1914 kaum nennenswert verändert: Er liegt bei rund 40 Prozent, gegenüber fast 90 Prozent in der gesamten US-Bevölkerung. Schon Max Planck, der Begründer der Quantentheorie, hielt Religion und Naturwissenschaft für zwei völlig verschiedene Arten der Weltbetrachtung. Dieser Meinung haben sich inzwischen auch viele Theologen angeschlossen und sich damit von der Vorstellung befreit, dass die Erkenntnisse der Naturwissenschaften eine akute Bedrohung des Glaubens seien. Selbst Johannes Paul II. schreibt in seiner 13. Enzyklika: »Glaube und Vernunft sind die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt.« Konsequenter noch formuliert es Wilfried Härle, Professor für Systematische Theologie an der Universität Heidelberg, der die Texte der Bibel nicht als konkurrierende Aussagen zu den naturwissenschaftlichen Evolutionsmodellen verstanden wissen will: »Gott ist in bezug auf die Natur als seine Schöpfung nicht vorzustellen als Architekt oder Programmierer oder Baumeister der Welt. Auf die Kategorie der Kausalität hat die Theologie gründlich zu verzichten.« Zu einer ähnlichen Einsicht gelangte vor rund 200 Jahren schon der französische Marquis Pierre Simon de Laplace, der auf die Frage Napoleons, welche Rolle Gott in seinem Weltsystem spiele, antwortete: »Sire, diese Hypothese habe ich nicht nötig.« Nur galt dies seinerzeit als unerhörte Entgleisung.

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