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Wehe dem Verlierer ...

Christa Luft über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der DDR und BRD vor 35 Jahren

Bonjour tristesse: Besetzung einer Treuhand-Niederlassung in Suhl, Thüringen, 1. Juli 1991
Bonjour tristesse: Besetzung einer Treuhand-Niederlassung in Suhl, Thüringen, 1. Juli 1991

Am 1. Juli 1990 trat die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in Kraft. Mit diesem Datum verbinden sich insbesondere die Bilder der vor Sparkassen Schlange stehenden DDR-Bürger und -Bürgerinnen. Dabei beinhaltete dieser Vertrag weit mehr als den Einzug der D-Mark in die DDR.

Das stimmt. Es war eine verhängnisvolle politische Weichenstellung, deren Nachwirkungen bis heute spürbar sind. Alles begann mit der abrupten Einführung der D-Mark ohne schrittweise erfolgende Anpassungsmaßnahmen. Die überstürzte Vereinigung orientierte sich auf Nachbau West statt Auf- und Ausbau zukunftsfähiger Strukturen nebst weitgehendem Erhalt der traditionellen Wirtschaftsbeziehungen ostdeutscher Unternehmen, insbesondere zu Osteuropa und der Sowjetunion. Und natürlich hatte das unselige Wirken der Treuhandanstalt unter Birgit Breuel von der CDU verheerende Folgen: Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit, zerstörte Lebensentwürfe.

Die Treuhand ist aber schon unter der Regierung von Hans Modrow gegründet worden, in der Sie Wirtschaftsministerin waren? Am 1. März 1990.

Aber mit vollkommen anderen Intentionen. Wir wollten das Volkseigentum für die Allgemeinheit bewahren. Die Treuhand unter der Leitung von Birgit Breuel zielte später jedoch auf eine rasche Privatisierung der bis dahin volkseigenen Wirtschaft in Ostdeutschland. Das Resultat war die größte Enteignung von Produktivvermögen in Friedenszeiten. Wir wollten nicht privatisieren um jeden Preis und egal zu welchen Bedingungen. So ist es dann aber gekommen. Zu den Bedingungen des Westens. Das war von vorneherein so vorgesehen.

Interview

Christa Luft, Jahrgang 1938, Tochter eines Maschinenschlossers der Mathias-Thesen-Werft in Wismar und der Leiterin einer Großküche für Schulen, absolvierte das Abitur an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Halle (Saale), studierte anschließend Außenhandel und internationale Wirtschaftsbeziehungen an den Hochschulen für Außenhandel sowie für Ökonomie in Berlin, an der sie ab 1968 lehrte und 20 Jahre später zur Rektorin gewählt wurde. Im Jahr darauf wurde sie Wirtschaftsministerin in der Regierung unter Hans Modrow (SED/PDS). Nach der Wende war sie unter anderem viele Jahre lang nd-Kolumnistin.

Es gab aber auch Kritiker dieser Vorgehensweise im Westen.

Ja, zum Beispiel Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl. Einen Tag vor der Währungsunion hat er sich noch mit Hans Modrow und mir getroffen. Er sagte, eigentlich müsste die ostdeutsche Wirtschaft erst einmal reformiert und saniert werden, bevor die D-Mark eingeführt wird. Er hat sich damit bei Helmut Kohl nicht durchsetzen können. Der Kanzler ließ sich nicht einmal von Pöhls Ankündigung abbringen, sein Amt abzugeben, wenn man nicht auf seine Warnung höre. Pöhl ist dann auch zurückgetreten. Kritik kam ebenso vom BDI-Chef Tyll Neckar, mit dem ich mich gut verstand. Er war Unternehmer und sagte zu mir: »Wenn die Bundesregierung das mit euch macht, ist es so, als wenn man einen Menschen bei strengstem Frost eine steile eisige Bergwand hochjagt.« Er sprach gern in Bildern. So verglich er die Situation der ostdeutschen Betriebe bei freier Konkurrenz zu den westdeutschen Unternehmen mit der Chance, die ein Laienboxer gegen einen Profi habe. Auch er wurde nicht erhört. Nichts wurde akzeptiert. Kohl, seine Regierung und deren Klientel waren so versessen darauf, sich ohne Zeitverlust zu holen, was sie sich immer schon holen wollten. Und dazu diente ihnen der Köder D-Mark.

Diese wurde aber von einer Mehrheit der DDR-Bürger gefordert: »Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr!« Kann man es ihnen verübeln, dass sie sich über das schnelle Westgeld freuten, um sich Konsum- und Reisewünsche zu erfüllen, von denen sie bis dato nur träumten?

Natürlich nicht. Aber der Preis war hoch, den sie dafür zahlten. Und das konnte man vorher wissen. Es gab einen Ausschuss »Deutsche Einheit« der Volkskammer und ebenso einen solchen beim Bundestag, die über fünf Monate hinweg über vertragliche Details der Wiedervereinigung berieten. Ich erinnere mich an ein Treffen von Vertretern parlamentarischen Ausschüsse bei Theo Waigel, dem damaligen Bundesfinanzminister von der CSU. Er sagte zu uns, den Abgeordneten der Volkskammer: »Wir geben euch das Beste, was wir haben: die Deutsche Mark und die soziale Marktwirtschaft. Das kostet uns einiges, das ist nicht ganz billig. Ohne ein Pfand dafür geht’s nicht.« Das Pfand, das er meinte, war das Volkseigentum der DDR, das schnellstmöglich privatisiert werden müsse. Daraus machte er keinen Hehl.

Das war Erpressung?

Absolut. Und Frau Breuel wusste ganz genau, was sie tat. Ich werde nie vergessen, wie damals, als die Treuhandgesellschaft noch im Haus der Elektroindustrie am Alexanderplatz in Berlin ihren Sitz hatte, schwarze Limousinen vorfuhren und junge Männer in Anzügen mit Goldkettchen und dicken Aktentaschen ausstiegen. Sie wurden der Reihe nach hereingerufen und gefragt, was sie denn haben wollten. Lachend kamen sie wieder heraus. Sie haben alles gekriegt, was sie wollten und mussten dafür nicht einmal Zeugnisse vorlegen, dass sie irgendwann zumindest eine kleine Klitsche mit fünf Mitarbeitern geführt hätten. Nichts, was ihre Kompetenz und Lauterkeit bezeugen könnte. Sie haben Investitionsversprechen abgegeben, die kein Mensch kontrolliert hat. Als ich einmal fragte, wie es um die Kontrolle der Versprechen bestellt sei, antwortete man mir: »Was verlangen Sie, Frau Luft? Wenn wir das tun, gehen alle ihre Betriebe pleite.«

Das war das dominierende Diktum: Die DDR-Volkswirtschaft war bankrott.

Sie war angeblich nichts wert, nur Schrott. Was natürlich nicht stimmte. Als wir, Vertreter der Modrow-Regierung, Anfang Februar 1990 in Bonn waren, in offizieller Mission beim Bundeskanzler, wurden wir wie illegale Bittsteller abgekanzelt.

Sie hatten um einen Milliardenkredit gebeten, der abgelehnt wurde mit der Begründung, dass dieses Geld nur sinnlos versickern würde. Aber wie viel Atem hatte die DDR denn in überhaupt noch? Das sogenannte Schürer-Papier ...

... war keine totale Bankrotterklärung, wie immer wieder behauptet wird. Egon Krenz hatte, als er im Oktober 1989 Staatsratsvorsitzender geworden war, eine ungeschminkte Analyse über den Zustand der DDR-Wirtschaft in Auftrag gegeben. Verantwortlich dafür war Gerhard Schürer, Chef der Zentralen Plankommission der DDR, wobei ein maßgeblicher Mitverfasser Alexander Schalck-Golodkowksi war ...

... Chef der KoKo, Kommerzielle Koordinierung, offiziell beim Außenhandelsministerium angesiedelt.

Die anderen Mitautoren waren der stellvertretende Direktor der DDR-Staatsbank Edgar Most und Außenhandelsminister Gerhard Beil. Das Dokument war top secret, de facto von der Kategorie »Vor dem Lesen zu verbrennen«. Jeder, der im Politbüro damals über dieses Papier mit diskutiert hatte, musste seine Kopie danach sofort wieder abgeben. Nachdem Schalck-Golodkowski am 8. Dezember ’89 mit seiner Frau in die Bundesrepublik geflüchtet war, wurde er erst mal in Pullach, der BND-Zentrale, vernommen. Er hat alles ausgeplaudert, auch den Inhalt des Schürer-Papiers. Ich habe die Geheimprotokolle seiner Vernehmung gelesen. Er war sehr generös: »Ihr könnt mich fragen, was ihr wollt, ich werde alles sagen.« Ich habe erst viel später den Inhalt des Schürer-Papiers erfahren, wie alle anderen Bürger und Bürgerinnen der DDR auch.

Und alle waren geschockt, weil alles viel schlimmer schien, als man ahnte.

Im ersten Teil wird festgestellt, unter welch schwierigen Bedingungen nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und trotz der Demontagen und Reparationsleistungen die DDR doch vieles erreicht hatte. Wir mussten neue Hochöfen und neue Häfen bauen. Das stimmte. Das konnte man unterschreiben. Dann kommt der Absatz: »Was ist schiefgelaufen?« Da konnte man auch alles unterschreiben: Wir hatten Probleme mit der Umwelt, es fehlten Ersatzteile, die jungen Menschen waren unzufrieden ... Alles, alles richtig. Das Problem war allerdings, wie diese Analyse interpretiert wurde: Die DDR sei nicht mehr zahlungsfähig. Schürer selbst hat noch 1990 eingeräumt, dass die Auslandsverschuldung von ihm viel zu hoch eingeschätzt worden ist. Aber das wurde nicht mehr wahrgenommen. Dementsprechend arrogant hat man uns in Bonn abgewiesen: »Was wollt ihr denn? Ihr seid doch pleite.« So war die Stimmung.

Sie meinen das Treffen im Februar 1990, als Modrow mit 17 Ministern in Bonn weilte?

Ja. Das fand im Nato-Saal statt! Das muss man sich mal vorstellen. Vorher musste jeder von uns zehn Minuten mit jemandem von westdeutscher Seite sprechen, mit dem er schon Kontakt hatte. In meinem Fall war dies Horst Köhler, damals Staatssekretär bei Waigel. Er meinte zu mir, ich müsste doch Luftsprünge machen. Worauf ich ihn fragte: »Warum sollte ich?« Er: »Na, weil wir der DDR anbieten, die D-Mark sofort als offizielles Zahlungsmittel zu übernehmen.« Ich sagte: »Herr Staatssekretär, ich kenne niemanden, der sich nicht freuen würde, Geld in der Tasche zu haben, mit dem er sich alles kaufen kann, was er sich wünscht. Aber es gibt natürlich Pferdefüße.« Köhler: »Was für Pferdefüße?« Ich: »Wenn morgen früh die D-Mark eingeführt wird, werden über Nacht in allen Läden von HO und Konsum die DDR-Produkte aussortiert, um Platz zu machen für Westprodukte. Das bedeutet für die DDR-Betriebe, dass sie ihre Produkte nicht mehr absetzen können, sie ihre Produktion einstellen müssen. Dann gibt es massenhaft Arbeitslose. Arbeitslosigkeit ist in der DDR unbekannt. Das wäre ein unkalkulierbarer Einschnitt.« Da ging bei ihm die Kinnlade runter. Das war aber noch nicht alles. Ich wies Köhler darauf hin, dass sich unsere Hauptabsatzmärkte in osteuropäischen Staaten und der Sowjetunion befänden. Wie sollten deren Außenhändler ad hoc an D-Mark kommen? Alle Transferleistungen wurden bisher mit Rubel beglichen. Auch das würde weitere Arbeitslosigkeit bedeuten, weil Aufträge ausblieben. Da war der Mann völlig konsterniert und sagte zu mir: »Warum argumentieren sie eigentlich so arrogant, Frau Luft?«

Köhler, der später auch die Einführung des Euro managte, hätte doch über genug Sachverstand verfügen müssen, um all das zu überblicken?

Tja, weiß ich nicht. Damals rügte er mich jedenfalls: »Wollen sie uns Unverständnis vorwerfen?« Zwei Jahre später habe ich ihn bei einer Auslandsreise in Japan getroffen. Da sagte er: »Wissen Sie, Frau Luft, ich habe oft an unser damaliges Gespräch denken müssen.« Und als er dann für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, also auch Stimmen aus dem Osten in der Bundesversammlung benötigte, räumte er in der »Super-Illu« ein: »Wir sind mit den Ostdeutschen viel zu schäbig umgegangen.« Das war natürlich ein bisschen spät.

Derlei Reue hörte man auch von einigen westdeutschen Wissenschaftlern, die an der Abwicklung ihrer ostdeutschen Kollegen beteiligt waren oder diese toleriert hatten.

Ich war vergangene Woche bei einem Ehrenkolloquium für Horst Klinkmann, einem international hoch angesehenen Mediziner, der auch zu künstlichen Organen forschte. Man hat ihm 1992 die Professur an der Universität Rostock wegen »mangelnder persönlicher Eignung« entzogen. Weil er vier Jahre der SED-Bezirksleitung angehört hatte. Er wurde seiner Ämter enthoben, empfing aber in aller Welt Ehrenprofessuren und war dann Dekan an der Universität von Bologna in Italien und an der Nanjing-Universität in China. Hochgeachtet. An der Veranstaltung der Leibniz-Sozietät zu seinem 95. Geburtstag nahmen viele Gäste aus dem Ausland teil. Ja, schämen müssten sich alle, die sich an der Abwicklung der ostdeutschen Wissenschaften wie auch der Wirtschaft beteiligt haben. Das tun sie aber nicht.

Aber die Ostdeutschen sind nicht frei von Mitverantwortung für die Vorgänge damals.

Ja, viele waren gutgläubig: Das würden »unsere Brüder und Schwestern« im Westen uns doch nicht antun. Na ja.

Die große Enteignung des Ostens betraf nicht nur die Zerschlagung der Industriekombinate, sondern auch landwirtschaftliche Betriebe?

Ja, mein Mann, Agrarwissenschaftler, hat dazu viel geschrieben. Ich bin, wie gesagt, unverhofft in Regierungsverantwortung gekommen. Und zu meinen ersten Vorhaben, die ich durchgesetzt habe, gehörte die Unterstützung oder Wiederherstellung kleinerer und mittlerer Unternehmen, die der langjährige DDR-Wirtschaftsminister Günter Mittag kaputt gemacht hat. Da ist so viel an Fleiß, Initiative und Kreativität erstickt worden, was meines Erachtens einer der Sargnägel für die DDR gewesen ist. Wir, also die Modrow-Regierung, wollten kleine und mittlere Unternehmen stärken und genossenschaftliches Eigentum fördern, denn die Fokussierung auf die Kombinate erschien uns eine Verengung wirtschaftlicher Kapazitäten und Kompetenzen zu sein. Ich bin weit davon entfernt, zu behaupten, dass wir alles richtig gemacht haben. Aber unser Ansatz war richtig.

Heute kämpft die Bundesrepublik selbst mit Problemen, mit denen die DDR in ihren letzten Jahren konfrontiert war: marode Infrastruktur und Umweltschäden. Und darüber hinaus haben wir heute ein kränkelndes Gesundheitswesen und ein unbefriedigendes Bildungssystem. Und kein Geld für alle »Baustellen«.

Absolut. Wenn man heute mit der Bahn fährt, weiß man nicht, wann man ankommt. Ich musste jüngst während meiner Fahrt von Berlin nach Retgendorf in Mecklenburg viermal umsteigen, Bahn, Bus, Bahn, Bus. Über vier Stunden benötigte ich für die relativ kurze Distanz. Ja, in die Infrastruktur muss ernsthaft investiert werden. Das bedeutet aber auch, dass man Wolodymyr Selenskyj nicht jeden neuen Geld- und Waffenwunsch erfüllen kann und immer mehr Steuergeld in die Aus- und Aufrüstung der Bundeswehr steckt. Der einzige Wirtschaftszweig, der wächst, ist die Rüstungsindustrie. Leider kaufen auch Sozialisten Aktien der Rüstungsunternehmen.

Ach, nicht doch!

Doch.

Und die Begründung?

Durch die Teilnahme an Aktionärsversammlungen wüssten sie, was so passiert. Was »so passiert«, kann man täglich in den Zeitungen und anderen Medien erfahren. Wenn über den Bildschirm die Zeile »Breaking News« läuft, hält man den Atem an: Was jetzt schon wieder? Kann es noch schlimmer kommen? Leider ja.

Auf diesen Coup mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion darf man doch mal anstoßen dürfen, nicht wahr? Bundeskanzler Kohl (l.) und Bundesfinanzminister Waigel (r.) sind sichtlich zufrieden.
Auf diesen Coup mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion darf man doch mal anstoßen dürfen, nicht wahr? Bundeskanzler Kohl (l.) und Bundesfinanzminister Waigel (r.) sind sichtlich zufrieden.
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