Volkes Wille
Wie viele Zuschauer in Russland haben am vergangenen Wochenende beim Eurovision Song Contest (ESC) für den ukrainischen Beitrag gestimmt, wie viele Ukrainer für das Lied aus Russland, wie viele Deutsche, wie viele Franzosen, Italiener …
Ehrlich gesagt: Wir wissen es nicht. Auf der offiziellen Webseite gibt es keine Angaben zu den absoluten Zahlen. Ob also in der Nacht von Samstag zu Sonntag vergangener Woche tatsächlich so viele Russen für die spätere Siegerin Jamala votiert haben oder ob die Ukrainer an diesem Abend für kurze Zeit über die russische Grenze rübermachten, um ihre patriotische Pflicht zu erfüllen (gleiches gilt übrigens auch für die Patriotenwanderung in die Gegenrichtung), bleibt eine offene Frage.
Letztlich ist es ja auch egal, wichtig ist nur, dass Deutschland erneut den letzten Platz belegt hat und die große europäische Nation Australien Platz Zwei. Konservative Anhänger des ESC, die lieber noch vom Grand Prix Eurovision de la Chanson reden, ist das zuwider. Sie haben ähnlich wie die nationalistischen Politiker in Ungarn oder Polen ein Identitätsproblem und wollen die fortschrittliche Idee hinter dieser Form der Volksabstimmung nicht erkennen: das Kunstwerk ist nichts, Volkes Wille alles.
Werden bald auch Indien und China Vertreter zum ESC schicken? Unwahrscheinlich ist das nicht, schließlich muss die europäische Idee der Aufklärung, die sich nirgends sonst so manifestiert hat wie in den deutschen Beiträgen für den ESC (»Ein bisschen Frieden«, »Ghost«) auch in Asien verbreitet werden.
Eine nicht ganz neue Theorie besagt, dass nicht der Widerstand gegen ein System zu dessen Abschaffung führt, sondern die Beschleunigung der dem System zugrunde liegenden Entwicklung. Wenn also dereinst Han Xin aus Peking in Sidney den Eurovision Song Contest gewinnt, ist der deutsche Schlager endgültig überwunden und der ESC ist auch offiziell das, was er schon lange ist: ein Karaoke-Wettbewerb. jam Foto: imago/Priller&Maug
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