100-Stunden-Woche für Kinder

Minderjährige werden in Syrien und auf der Flucht als Arbeitskräfte missbraucht

  • Josephine Schulz
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Kinderarbeitsreport 2016 von Terres des Hommes zeigt: In syrischen Nachbarstaaten gehört Kinderarbeit zum Alltag. Aber auch in Europa sind Kinder nicht sicher.

«Wir können uns um getötete Menschen kümmern. Zum Beispiel können wir ihre Körperteile einsammeln, um sie zu begraben.» Das erzählte ein syrisches Flüchtlingskind der Hilfsorganisation Terre des Hommes. Die Menschenrechtler sprachen entlang der Fluchtrouten mit Kindern aus dem Bürgerkriegsland und stellten fest: Kinderarbeit gehört in Syrien und den Nachbarländern zum Alltag. Das fänden sie nicht problematisch, sagten viele Minderjährige, solange die Tätigkeit nicht mehr als 20 Stunden am Tag beanspruche. In Syrien sind solche Arbeitszeiten die Regel. Die Kinder schuften dort in der Landwirtschaft, schmuggeln Waren über die Frontlinien, sammeln Ölreste oder helfen bei der Bestattung der Leichen. Außerdem nimmt laut Angaben von Unicef die Rekrutierung von Kindersoldaten zu. Der Trend gehe dahin, jüngere Kinder - ab sieben Jahren -, und Mädchen anzuwerben.

Auch in den Nachbarländern hat dem Bericht zufolge Kinderarbeit massiv zugenommen. Alle interviewten Flüchtlingskinder gaben an, dort gearbeitet zu haben. Jordanien, Libanon und Irak haben die Kinderrechtskonvention ratifiziert. Dennoch sagten in einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation ILO 84 Prozent der befragten jordanischen Arbeitgeber, sie hätten seit 2012 Minderjährige eingestellt. Zwei Jahre zuvor waren es 11 Prozent. Im Libanon und in Jordanien ist der Zugang zum Arbeitsmarkt für erwachsene Flüchtlinge stark eingeschränkt. «Wenn alle Ersparnisse aufgebraucht sind und das Essen auf eine Mahlzeit am Tag rationiert ist, müssen die Familien auf drastischere Überlebensstrategien zurückgreifen», sagt Antje Ruhman von Terre des Hommes. Die Kinder beschrieben, dass sie für illegale Arbeit seltener strafrechtlich verfolgt würden als ihre Eltern.« Die Jüngsten unter ihnen fingen mit fünf Jahren an zu arbeiten. Viele Minderjährige erzählten auch, dass die Kürzung der UN-Hilfsleistungen sie in die Arbeit zwinge. »Denn der UNHCR zahlt nicht für die Medizin, außer wenn wir ins Krankenhaus gehen.«

In der Türkei war Kinderarbeit laut Terre des Hommes schon vor dem Bürgerkrieg im Nachbarland ein Problem. Durch den Zuzug syrischer Kinder verschärft sich die Situation nun weiter. Die Hilfsorganisation Support to Life befragte arbeitende Kinder und fand heraus, dass etwa 40 Prozent von ihnen schwere und gefährliche Arbeiten verrichten. Ihr Durchschnittsalter lag bei 14 bis 15 Jahren. Auch deshalb kritisiert Terre des Hommes das Abkommen zwischen EU und Türkei als unvereinbar mit den Menschenrechten. Auch in den Transitländern auf der Balkanroute haben die Mitarbeiter von Terre des Hommes nach Fällen von Kinderarbeit gesucht. Im griechischen Grenzgebiet um Idomeni wurden Minderjährige beobachtet, wie sie Brot und Zigaretten auf der Straße verkauften. Auch innerhalb der Flüchtlingslager blühe der »Schwarzmarkt für Kinderarbeit«. In Mazedonien und Serbien wurden dagegen keine Fälle dokumentiert. Das werde sich aber durch die geschlossene Balkanroute ändern, glauben die Menschenrechtler. Durch längere Aufenthalte steige die Zahl der Schleuser und die Not der Kinder, die dann bereit seien auch größere Risiken auf sich zu nehmen.

In Deutschland hat die Organisation keine konkreten Fälle von Kinderarbeit nachweisen können. Entwarnung geben sie aber nicht: Besonders unbegleitete minderjährige Flüchtlinge seien hierzulande gefährdet. Projektpartner von Terre des Hommes berichteten von Fällen, in denen Vertreter von Schleuserorganisationen in Jugendhilfeeinrichtungen auftauchten, Kinder bedrohten und sie zwangen, Geld zurückzuzahlen, dass sie sich für die Flucht geliehen hatten. Terre des Hommes fordert von der deutschen Regierung, Daten über Kinderarbeit auch in Deutschland zu erheben. Denn offizielle Erkenntnisse beispielsweise über die angeblich verschwundenen Flüchtlingskinder gibt es nicht. Die Menschenrechtsorganisation vermutet, dass ein Großteil von ihnen weitergereist ist, andere könnten aber auch Opfer von Menschenhändlern geworden sein.

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