Ein Kontinent im Bann des Balls

Die Fußball-EM könnte helfen, ein gemeinsames Gefühl für Europa zu stärken

Terrorgefahr, Flüchtlingsfrage, politischer Rechtsruck: Inmitten einer der größten Krisen Europas könnte die Europameisterschaft etwas Hoffnung geben.

»I am here«, ruft Tengiz Pachkoria. Dass er da ist, ruft er irgendwie allen zu. Dabei ist er nun wirklich nicht zu übersehen. Er trägt eine Kapitänsmütze, daran stecken eine kleine georgische Fahne und zwei Weihnachtsbaumkugeln, ebenfalls in den weiß-roten Nationalfarben mit den fünf Kreuzen. Tengiz ist ein Journalist aus Georgien, gerade in Paris angekommen und gleich zum Stade de France gefahren. Die Freude ist ihm anzusehen.

»We are here«, korrigiert Tengiz sich. Ja, Georgien ist bei der Fußball-EM, dem größten Ereignis, das Europa zu bieten hat. Nein, nicht die Nationalmannschaft. Obwohl sie es verdient hätte, wie Tengiz versichert. Erst recht nach dem jüngsten 1:0-Sieg im Testspiel gegen den amtierenden Europameister Spanien. Nein, Tengiz ist da, stellvertretend für sein Land. Und er gibt sich alle Mühe, Georgien auffallend zu repräsentieren.

Plötzlich winkt Tengiz ab. Nein, über Suchumi wolle er jetzt nicht sprechen. Obwohl »Georgia Sokhumi« einmal auf seiner Mütze steht und zwei Mal auf seinem blauen Hemd, jeweils in großen Lettern. Suchumi ist die Hauptstadt der Autonomen Republik Abchasien, die zu Georgien gehört. So sehen es die meisten Staaten der Welt. Tengiz anscheinend auch. Russland, Abchasien und ein paar wenige andere Staaten betrachten das 65 000-Einwohner-Land am Schwarzen Meer hingegen als eigenständig. Politik und Probleme trägt Tengiz offensichtlich mit sich herum, sprechen indes möchte er lieber über die Begeisterung in Georgien für die EM. Damit steht Tengiz nicht nur stellvertretend für sein Land.

Die EM findet mitten in einer der größten Krisen des Kontinents statt: die große Terrorgefahr, ganz besonders in Frankreich, die nicht selten zu einer Verschärfung der Gesetzgebung zuungunsten von Freiheit und Bürgerrechten führt. Die drängende Flüchtlingsfrage, in der es kaum noch ein gemeinsames Handeln gibt, Lösungen schon gar nicht. Die islamfeindliche Stimmung sowie zunehmender Rassismus und Nationalismus. In Folge dieser Probleme haben sich die Machtverhältnisse in Europa zugunsten der Rechten verschoben. Ach ja, Griechenland ist ja auch noch.

Gibt es also nichts Wichtigeres als Fußball? Doch, natürlich. Aber diese EM könnte helfen, ein gemeinsames Gefühl für Europa zu stärken - ein verbindendes und friedliches. Es ist das erste kontinentale Turnier mit 24 Mannschaften. 1996, bei der EM in England, wurde die Teilnehmerzahl von acht auf 16 verdoppelt. Damals hatte die Europäische Union 15 Mitgliedsstaaten. Jetzt sind es 28. Abgesehen von dem zutreffenden Argument, dass die Erhöhung von einem gewinnmaximierenden Gedanken der UEFA getragen wurde, bildet sie auch die Entwicklung Europas ab.

Wenn schon Tengiz Pachkoria von der EM-Faszination seiner Landsleute berichtet, obwohl Georgien sich nicht qualifizieren konnte, welch positive Kraft kann dieses Fußballturnier erst bei den Teilnehmern auslösen? »Albanien fühlt sich nicht mehr ausgeschlossen«, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter einer internationalen Organisation, der bis vor kurzem noch im Kosovo gearbeitet hat. Die Stimmung im Land sei nach der erstmals geglückten Qualifikation eine ganz andere. Noch bedeutender für ihn ist die Lage im Kosovo. »Französische Flaggen und EM-Symbole sind im Straßenbild von Pristina wie auch in allen anderen größeren Städten allgegenwärtig.« Und mitgefiebert werde nicht nur für Albanien, auch für die Schweiz - in beiden Mannschaften spielen gebürtige Kosovaren mit.

Ein anderes Beispiel für die integrative Wirkung des Sports liefert Belgien, einer der Turnierfavoriten. Jahrzehntelang hätten Flamen und Wallonen an ihren Unterschieden gearbeitet, beschreibt Ghislaine Jean Maurice D’hoop, der Botschafter Belgiens in Deutschland, die Probleme in der Gesellschaft. Deren Spaltung betreibt beispielsweise die rechtsgerichtete Partei »Vlaams Belang« aktiv. Die flämischen Separatisten wettern gegen den »Einheitsstaat Belgien« und verteufeln »die Wallonen«, weil die faulen Mitbürger aus dem Süden ihnen angeblich auf der Tasche lägen.

Von positiven Veränderungen in seinem Lande kann Ghislaine Jean Maurice D’hoop berichten. »Die Nationalmannschaft vermittelt mit ihrer Stärke und vor allem ihrem Zusammenhalt, den es in dieser Form lange nicht gab, ein Belgien-Gefühl«, sagte der Botschafter Ende Mai am Rande einer Lesung am Berliner Gendarmenmarkt gegenüber »nd«.

Der Fußball macht es rechten Populisten schwerer, Gehör zu finden. Das hat er anderen Themen voraus. In Deutschland zeigt sich das an der überwältigenden Anzahl der Grußbotschaften an Jerome Boateng und Mesut Özil, als sie von Pegida und AfD beleidigt wurden. Ohne Rassismus und Diskriminierung geht es immer öfter auch im Stadion zu: Die Fans jubeln in großer Mehrheit ihren Spielern zu, egal welcher Hautfarbe und Herkunft sie sind. Bei der Europameisterschaft laufen 87 Fußballer für Nationalmannschaften auf, in deren Ländern sie nicht geboren sind - etwa ein Sechstel der 552-EM-Fußballer.

Und wenn schon bei dieser EM der europäische Gedanke gestärkt werden sollte, dann verspricht das nächste Turnier in vier Jahren noch mehr: 2020 sollen die Spiele in 13 verschiedenen Ländern ausgetragen werden.

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