»Noch sind wir in Europa«
EM-Achtelfinale in Paris: Ein Fußballspiel im Zeichen des Brexit
»Noch sind wir in Europa. Über alles andere reden wir, wenn wir zuhause sind«, sagte Chris Coleman. Der Doppeldeutigkeit seiner Worte war sich der Trainer der walisischen Fußballer durchaus bewusst. Nach dem 1:0-Sieg am Samstagabend im Achtelfinale gegen Nordirland steht Wales unter den besten acht Nationalmannschaften Europas. Ein beachtlicher Erfolg, der mit den Anhängern noch eine halbe Stunde nach Spielende im Pariser Prinzenpark gefeiert wurde. Die Endrunde dieser EM 2016 ist die erste, die die Waliser seit der WM 1958 erreicht hatten.
Die Nordiren wären auch gern geblieben. »Remain!« In verschiedensten Versionen sangen die Fans über das »Bleiben«. Natürlich war der Brexit Thema auf den Tribünen. Aber es hat ihnen in Frankreich auch wirklich gut gefallen. Ob Paris, Nizza oder Lyon - die zahlreichen Anhänger eroberten jede Stadt und die Herzen der Einwohner. Sie feierten überall ausgelassen, freundlich und friedlich. Der Song über ihren Stürmer Will Grigg, der zwar keine Minute bei dieser EM gespielt hat, ist jetzt auch in Frankreich ein Hit. Die Textzeilen des »Will Grigg›s on Fire« zur Melodie von »Freed from Desire« liefen zum Mitsingen über die großen Stadionmonitore.
Battle of Britain II - so werden Duelle zwischen Wales und Nordirland in Großbritannien genannt. Was brachial klingt, war am Samstagabend auch nichts für Fußball-Feinschmecker. Ungefähr eine Stunde lang spielten die Nordiren in einer kampfbetonten und defensiv geführten Partie besser und zielstrebiger nach vorn. Torchancen hatten sie aber meist nur nach Fernschüssen. In den letzten 30 Minuten beherrschte Wales das Spiel und gewann durch ein Eigentor von Gareth McAuley.
Nach dieser insgesamt schwachen Leistung ist es nicht unwahrscheinlich, dass Chris Coleman spätestens ab dem kommenden Wochenende über das Europa abseits der EM reden muss. Am Freitag treffen die Waliser und ihr Trainer im Viertelfinale auf den Sieger aus der Begegnung Ungarn gegen Belgien. Gut möglich, dass sie dann nach Hause fahren müssen. Bis dahin soll aber nicht der Brexit, sondern der Sport im Vordergrund stehen. Ähnlich defensiv geht derzeit die englische Nationalmannschaft mit dem Thema um. In Wales und England gab es eine Mehrheit für den Austritt aus der EU.
Battle of Britain II - seit Donnerstag, seit dem Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU, gegen den sich insgesamt knapp 52 Prozent entschieden hatten, hat diese Bezeichnung eine neue Dimension. »We voted remain, we voted remain, we aren‹ stupid, we voted remain.« Diese Zeilen schmetterten die nordirischen Fans im Prinzenpark ihrem sportlichen Widersacher entgegen. 56 Prozent der Nordiren hatten gegen den Austritt aus der EU gestimmt. Michael O›Neill, Trainer der nordirischen Nationalmannschaft, bereute schon am Freitag, seinen Spielern nicht die Chance zur Briefwahl gegeben zu haben.
Was der Brexit zur Folge haben könnte, hat während der EM der Fußball schon erreicht. »Irland ist vereint« - so titelte jüngst »L‹Equipe« über einer Doppelseite. Denn neben den nordirischen Fans sind auch die Anhänger der irischen Nationalmannschaft in Frankreich sehr beliebt. »Die Fans von Irland und Nordirland kämpfen gemeinsam um den Titel für die beste Stimmung«, schrieb die Sportzeitung. Die ersten politische Forderungen, die Vereinigung der beiden Landesteile zu forcieren, kamen am Freitag aus Nordirland.
»Ich bin zufrieden, dass wir die Gruppenphase als Erster vor England überstanden haben«, sagte Wales› Superstar Gareth Bale. Zumindest fußballerisch trennt die beiden Befürworter des EU-Austritts eine innige Feindschaft. Kurz vor der EM musste die Kaufhauskette Marks and Spencer etliche Werbeplakate in der walisischen Hauptstadt Cardiff entfernen. »Offizieller Lieferant für Anzüge der englischen Nationalmannschaft« - dies wollten unzählige Waliser nicht lesen, beschwerten sich heftig und hatten damit Erfolg. Und während am Samstagabend auf der nordirischen Seite »God save the Queen« erklang, sangen walisische Fußballer und Fans stolz ihre eigene Nationalhymne »Hen Wlad Fy Nhadau«. Dennoch sind beide Mannschaften ein Spiegelbild englischer Dominanz im Vereinigten Königreich. Nur sieben von den am Samstagabend insgesamt 27 eingesetzten Fußballern spielen nicht in England.
Auch bei der EM ist die Premier League die Nummer eins: Von allen 552 EM-Spielern verdienen 139 ihr Geld in der ersten englischen Liga. Das könnte der Brexit ändern: Derzeit gibt es für Fußballer, die nicht aus dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) kommen nur eine Arbeitserlaubnis, wenn sie in den zwei Jahren vor ihrem Wechsel eine gewisse Anzahl an Länderspielen bestritten haben. Nach dem Austritt aus der Europäischen Union würde dies auch für Spieler aus EU-Ländern gelten. Die finanzielle Vorherrschaft der Premier League könnte ebenso leiden: Der milliardenschwere Fernsehvertrag ist wegen der Abwertung des britischen Pfunds plötzlich weniger wert. Zudem dürften für die Klubs die Preise auf dem Transfermarkt steigen.
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