Still ruht der See

Kunst ist heute vor allem Kapitalanlage, und Kunsthochschulen sind zu Dienstleistern des Marktes geworden. Was uns die Kunstpraxis der Gegenwart lehrt. Von Harald Kretzschmar

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 7 Min.

Kunst zu machen, ist schwer. Offenbar ist es noch schwerer, Kunstgeschichte zu schreiben. Man denkt sich das so einfach: Das, was gut gelungen war, wird beschrieben und gewertet. Die besten Stücke werden aufbewahrt. Es hat Ausstellungen gegeben, da haben Jurys kundiger, von den Aktiven gewählter Leute das Beste ausgesucht und zur Diskussion gestellt. Und Theoretiker und Liebhaber, also Museumsleute und Sammler, heben das Beste auf und interpretieren es für die Nachwelt. So vermutet man.

Ja, schön wäre das. Da unterschätzt man den herrschenden Trend. Was einmal »bildende und angewandte Künste« hieß, dessen Maßgaben sind abgeräumt. Den Museen ist Anpassung verordnet. Was tun, wenn in der Kunstszene kaum das entsteht, was man unmittelbar anfassen oder ansehen kann? Wenn das flüchtig Grelle und das unfassbar Rätselhafte Konjunktur hat? Es fing damit an, dass im Sturmwind neuer Ausdrucksformen die klassische Moderne einen überalterten Kunstbegriff umstürzte. Die Kunstwelt atmete auf, und öffnete Tür und Tor. Die frische Luft neuer Ismen kam herein. Bis zum Siegeszug von Pop Art und Tachismus war alles in Bewegung. Eines Tages war die Tür zu, und wir waren gefangen in einem Teufelskreis.

Seitdem treten wir auf der Stelle. Der entscheidende Moment war die Umwertung aller Kunstwerte durch den nun global herrschenden Kunstmarkt. Im Handumdrehen wurde aus der sozialen Rebellion der Beuys und Warhol ein Lobpreis des freien Gelderwerbs. Paradox genug: Der Vorwand einer absoluten Freiheit für alle, die Kunst machen wollen, war die betäubende Droge, zu der wir griffen und die uns als Sklaven des Marktes aufwachen ließ. Ihr bietet an, wir kaufen - oder nicht. Das Kapital nimmt das Heft in die Hand. Kunstwert wird auf Auktionen nach erzielten Rekordpreisen festgelegt. Genuss an Kunst? Nein, Freude an Kapitalanlage. Professionelle Urteile werden überflüssig.

Nun schreibe man in dieser Lage objektiv Kunstgeschichte. Gemaltes, jeweils durch Zufall hochdotiert, verführt zur Fälschung. Kunstfälscher haben Konjunktur. Hurtige Nachmacher des Gängigen halten Hof. Künstlerische Ausbildung hatte immer Hand und Fuß in der Ausbildung handwerklicher Fähigkeiten. Braucht man sie heute nur noch zum Fälschen? Ein auf den Kunstmarkt orientiertes Lehrprogramm muss das nicht mehr leisten. Die staatlichen Kunsthochschulen werden Dienstleister des Marktes: Die Kunst zu kuratieren, muss gelehrt werden. »Curatorial studies« orientieren als beherrschende Lehrgänge auf die kommerzielle Seite des Kunstbetriebes.

Es gilt, den Wert des Jetzigen zu steigern, das Gewesene herabzusetzen, Kunstgeschichte umzudeuten auf ein Ziel hin, aus »richtig« »falsch« zu machen. Fertig ist der Kunstgeschichtsfälscher.

Das »Damalige« war in der traditionell strukturierten Kunstübung in der DDR mustergültig manifest. Einbindung der Kunst in gesellschaftliche Entwicklungsprozesse? Ideologische Verblendung! Mittel zur ästhetischen Erziehung? Schulmeisterei! Der Mensch als Maß? Schmalspur! Reagieren auf Krieg und Gewalt? Da ist die Freiheit der Kunst in Gefahr! Der mit Pseudoargumenten geführte Schlagabtausch räumt auf. Einen schüchternen Versuch, erstmals gesamtdeutsche Kunstgeschichte zu schreiben, unternahm 2002 Karin Thomas in einem dicken Wälzer von 540 Seiten: »Kunst in Deutschland seit 1945«. Eine geradezu altmodische Objektivität bildet darin Ost und West nahezu paritätisch nebeneinander ab. Ein Erlebnis. Der Text interpretiert die Kunst des Ostens jedoch als ständige Widerstandsleistung gegen das »System« und entspricht insofern durchaus der offiziellen Lesart.

Doch merkwürdig: Das Buch mit seinem ehrlichen Ansatz zu einer umfassenden Kunstgeschichtsschreibung blieb völlig einmalig. Es taucht bei Wikipedia in der Publikationsliste der prominenten Kunsthistorikerin überhaupt nicht auf. Die Fachpresse hatte es schnell als zu faktenlastig (und das nicht immer korrekt) abgetan. Niemand bemüht sich nach Karin Thomas darum, den östlichen Teilbereich deutscher Kunst ernsthaft in so etwas wie eine gemeinsame Kunstgeschichte zu integrieren. Die Wiedervereinigung findet nicht statt, wenn nur das dem sogenannten Regime Feindliche als Kunst gelten darf. Seit über 25 Jahren wird nahezu alles gleichlautend abgeurteilt, was nicht ins neue Schema passt.

Eine zum Jahr 1990 hin so gut wie konvergente Kunstentwicklung, die geradewegs auf eine Annäherung der Kunstauffassungen in Ost und West hinauslief, wurde ignoriert. Abstraktion war im Osten und Realismus im Westen kein Schimpfwort mehr. Was wollte man mehr? Eine variable Kunstszene war international kompatibel. Der Markt drückte wider besseres Wissen andere Wertvorstellungen durch. Die Marktführer hatten unangetastet zu bleiben. Das bezog sich wohlgemerkt auf den ganzen Komplex einer Kunst hinter dem Eisernen Vorhang. Was bis dahin in Prag, Warschau oder Budapest an künstlerischen Leistungen zu verzeichnen war, wer konnte es wahrnehmen, der alles durch die Brille der »Kunst des Westens« sah? Bis heute weiß es kaum jemand.

Kein Wunder, wie radikal nationales Selbstbewusstsein nun wieder das Eigene betont. Ein Treppenwitz der Weltgeschichte: Im viel gescholtenen Warschauer Pakt, sprich »Comicon«, gab es zehnmal mehr kulturelle Kontakte als in der nun gepriesenen EU. Ungehemmt auf der Ebene von Künstlerverbänden mit polnischen oder bulgarischen Künstlerkollegen zu kommunizieren, war für uns kein Problem. Als ich in den 90er Jahren mit solchen in Italien und Portugal Kontakt aufnahm, gab es keinerlei Hilfeleistung aus Brüssel. Die erste Ausstellung in den Niederlanden war eine Privatinitiative. Offiziell völlig uninteressant. Unsere rege künstlerische Tendenzen reflektierende Kunstzeitschrift »Bildende Kunst« wurde in der Verantwortung eines britischen Medienkonzerns marktkonform. Anpassung an Standards, als Kunstfreiheit dekoriert. Ich las sie nie wieder.

Nun leben wir in einem quasi geschichtslosen Status quo dahin. Wir nehmen zur Kenntnis, was medial läuft. »Leider bleiben Information und auch das Interesse an hiesiger ostdeutscher Gegenwartskunst größtenteils in den Medien unberücksichtigt. Spricht man etwa schon von Westlastigkeit?« fragt die renommierte Chemnitzer Künstlerin Dagmar Ranft-Schinke in ihrem im kleinen Kreis zirkulierenden »Künstlerbrief« vom 14. Mai 2016. »Wir wollen keine global rundgelutschte Kunst in geistiger Bedürfnislosigkeit, sondern eine Ausgewogenheit ohne bevorzugte Himmelsrichtung. Unsere Gesellschaft braucht Querdenker und Vordenker auch in der Kunst, nicht nur selbstgefällige Paradiesvögel.« Sie erinnert sich an 1988, als sie »Kunst ist Katalysator« in einen Saal voll selbst bestimmender Künstler rief.

Ja, wo sind die Statements all dieser Kunstrebellen, die sie damals noch weit darin übertrafen - wo sind sie geblieben? Still ruht der See. Nichts trübt das allgemeine Einverständnis darüber, was und wie Kunst war und ist. Ein unglaublicher Vorgang. Der Ruch des Verlogenen breitet sich aus, wenn denunziert statt analysiert wird. So undifferenziert wie heute dargestellt, hat es Sozialistischen Realismus nie gegeben. Hart neben der dogmatischen Entgleisung war die unabhängige Meisterleistung - wer hält das noch auseinander? Hellwach geradezu seismisch auf Konflikte reagierende Talente waren nicht zu reglementieren. Hier das Dogma, da die Rebellen, welch einfältiges Muster. Das Traurige daran war der subjektive Faktor. Die jungen Theoretiker, die positiven Interpreten - wie schnell waren sie stumm. Oder in neuen Einklang gebracht. Wie alt sahen sie plötzlich aus im Gegenwind. Wie wenige hielten stand, als ihnen wiederum Galerien und Museen streitig gemacht wurden.

Ja, es gab Ausnahmen. In Eugen Blume und Roland März fanden sich zwei Übriggebliebene, die den Mut hatten, 2003 in der Neuen Nationalgalerie Berlin unter dem Titel »Kunst in der DDR« 400 Werke Bildender Kunst querbeet zu zeigen. Nicht ausschließlich zeitgeistgemäß »Anti«, nein, durchaus komplex umfassend. Das einzige Befremdliche dabei war die völlige Aussparung der hochentwickelten Druckgrafik, obwohl beide als Experten dafür ausgewiesen waren. Es wurde auf einen späteren Zeitpunkt verwiesen. Bis heute ruht der ungehobene Schatz im Depot des Kupferstichkabinetts. Eine angekündigte Ausstellung von Blättern der Sammlung aus Ost und West unterblieb.

Nun gehen die letzten Kundigen. Roland März verabschiedete sich 2004 als Rentner zu anderweitigen Kleinprojekten. Die Grafikspezialistin Anita Beloubek-Hammer folgte ihm 2015. Und nun wird mit Eugen Blume im Herbst der letzte namhafte Kenner die Tür schließen. Man fragt mich, was mich daran störe und was ich an Leuten anderer Herkunft auszusetzen habe. Nichts außer ihrer Unkenntnis, antworte ich. Es gab keinen kunstfreien Raum in jenem viel gescholtenen Land, selbst wenn kaum ein einziges Kunstwerk aus der DDR je im Hamburger Bahnhof gezeigt wurde, für den Eugen Blume nach 2003 die Verantwortung übernahm. Ich habe bedauert, dass jenes weiträumige Areal in Gänze nun Privatsammlern wie Flick und Marx mit für sie lukrativen Dauerleihgaben gigantischen Ausmaßes überlassen wurde, um damit Weltgeltung zu demonstrieren.

Eugen Blume tröstet uns nun darüber hinweg, dass Erich Marx ihm dort zum Abschied eine wahrlich spannende Rauminstallation von Joseph Beuys zum Zeigen überlässt. Die 27 Objekte aus den 70er Jahren, genannt »Das Kapital«, sprechen eine klare politische Sprache: »Wirtschaftswerte I Produktionsmittel« und »Wirtschaftswerte II geistige und materielle Güter« weisen auf »Kunst als einzige evolutionäre Kraft« in »direkter Demokratie« und mit »menschlicher Wärme« hin. Wenn Beuys »eine vorübergehend stillgelegte Werkstatt, deren Betrieb wieder aufgenommen werden will« zeigt - weist das nicht eher auf Ostwärtiges als auf den Westen? Aber Eugen Blume orientiert im Verein mit Christoph Tannert gleichzeitig ab 15. Juli im Martin-Gropius-Bau auf »Gegenstimmen. Kunst in der DDR 1976 - 1989«. Wie fremd mag da das Aufbegehren von einst wirken? In einer widersprüchlicher denn je gewordenen Welt, die mit gewalttätiger Einfalt kunstlos eine Vergangenheit entsorgt, die ihr nicht in den Kram passt.

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