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Einmal Halle - Wernigerode

Eine Schienen-Geschichte. Von Dirk Werner

  • Dirk Werner
  • Lesedauer: 7 Min.

Endlich hatten wir ein Thema für unsere Umfrage und zogen los. Die Antworten der Fahrgäste läuteten sehr angenehm in meinen Ohren. Mitunter waren sie aber erschütternd, kaum auszuhalten. Ich hatte damals das Gefühl, solche Aktionen gemeinsam mit F. früher schon durchgeführt zu haben. Obendrein war ich der Meinung, bei den vorhergehenden gemeinsamen Unternehmungen hätte ich, der viel jüngere, immer im Schutz von F.’s Charme und Überlegenheit und weit im Schatten von F.’s Souveränität und Frechheit gestanden. Oder ich wäre jedenfalls, im Licht seines Künstlertums, nie der Verantwortliche für die Aktionen und deren Ausgang gewesen. Als ich mich jetzt aber an diese Niederschrift hier machte, musste ich feststellen, dass es vor und nach unserer Zugumfrage nie weitere gemeinsame Aktionen gegeben hatte. Zum Glück, denke ich heute. Aber es gab diesen verkramten Charme F.’s, seine Unerschütterlichkeit und unzweifelhafte Stellung als Künstler unter uns Menschen.

In der Bahn Halle/Saale - Wernigerode gingen wir also los mit unserer Umfrage. Auch wenn der Zug uns manchmal rüttelte und schüttelte, so dass wir von der einen Wand des Abteils fast bis zur anderen schleuderten - ich habe das Zugfahren häufig genossen. (Man lese zum Thema Eisenbahnfahrten auch einmal »Netzkarte« von Stan Nadolny.) Und es bedurfte dabei gar keiner zusätzlichen Besonderheit - ich war zufrieden, einfach zu sitzen und aus dem Fenster zu sehen. Zu fühlen, wie die Bahn Fahrt aufnahm, in eine Kurve bog oder stufenweise abbremste. Andererseits weiß ich nicht, wie viel Text durch mich während meiner tausenden Bahnkilometer entstand, als Lohn fürs bloße Mitfahren, das an sich schon herrlich genug war, ohne dass ich dabei je einen durch die Deutsche Bahn zu verschenkenden Punkt auf einem Konto gesammelt hätte. Aber es existierten wichtige Künstler, die viel mehr von Zügen befeuert wurden als ich selbst. Soll ich nur einmal drei nennen, die mir einfallen? Nur die Namen …?

Dirk Werner

Dirk Werner, 1961 in Gera geboren, an der Ostsee aufgewachsen. Danach zwei Jahrzehnte in Berlin. Lebt als Fotograf und Autor in Esslingen am Neckar. Texte von ihm erschienen u.a. in der »Stuttgarter Zeitung«, im »Eulenspiegel« und in »neues deutschland«.

Zurück zu F. Er war einer der wichtigsten Theaterregisseure der DDR gewesen, kreativ, produktiv, charismatisch, politisch und links. Doch genug von solchen pausbäckigen Behauptungen - von wegen wichtigster Regisseur und so - die gar nichts bringen und nichts bedeuten. Ich weiß es ja. Aber ich hatte nun einmal verschiedene Inszenierungen von ihm auf den Bühnen des kleinen Landes gesehen, und ich verspreche, jede für sich genommen, lohnte, am Leben gewesen zu sein. F. war schon als Reisender im Westen und er war im Gefängnis im Osten gewesen, ehe diese ummauerte deutsche Bühnenrepublik für immer verschwand. Noch ehe sie ganz zu Ende war und noch bevor das große Tilgen ihrer Spuren begann, war F. von einem Gehirntumor befallen worden. Er überstand, die DDR nicht. Die war tot, aber er konnte irgendwie sogar bald wieder laufen. Er verlor aber häufig die Orientierung - vor allem im vormaligen Westberlin, er, der aus Ostberlin kam - und war seiner Sprache, des wichtigsten Werkzeugs eines Regisseurs - neben der Phantasie - noch nicht wieder ganz mächtig. Dorthin dauerte es Jahre.

Soll ich Ihnen was sagen? Halten Sie das aus? - F. hing an der DDR. Er hing an ihr und hasste sie. Oder: Er wollte weit hinreichende Veränderungen. Lachte über den Staat. Und war dem Land gegenüber zu ganz großen, echten Emotionen fähig, so wie nur Lyonel Feininger, William Turner und Bohumil Hrabal gegenüber den dampfenden Eisenbahnrossen und den wie in die Freiheit voranstürmenden, durch die Schienen an die Erde gebundenen Lokomotiven ihrer Zeit.

Ich staunte über manches Bild Turners. Er macht die Bewegung schon vor der Fotografie, schon vor dem Film, sichtbar und eines von Turners Bildern (darauf mehrere Schiffe) ziert nicht umsonst den Buchdeckel von Stan Nadolnys »Entdeckung der Langsamkeit«. Aber ich mag Turners Bilder nicht. Sie geben nicht die Ferne, sondern die Nähe wieder, huldigen der Bewegung - der bald industriellen Bewegung - und nicht der Verwandlung von Architektur und Natur in die Farben und Linien eines Feiningers. Wenn in Büchern über Letzteren Bezug auf Turner genommen wird: - ich für meinen Teil kann diesen Bezug zwischen Turner und Feininger nicht entdecken. So sehr ich Feiningers Bilder mag, so sehr lassen mich Turners Bilder kalt. Doch beide waren in der Lage, die Lokomotive als ein Teil der Natur, die von Menschen gemacht ist, darzustellen.

Wir beide, F. und ich also im Zug nach Wernigerode. (Es liegt übrigens ja nicht weit von Quedlinburg mit seiner eigenen Feininger-Galerie.) Mir geht bald auf, dass möglicherweise ich, nur ich, die Verantwortung für das Gelingen unserer Unternehmung tragen muss. Jedenfalls habe ich das Gefühl, es irgendwie versuchen zu müssen, damit noch einmal eine Spur, der Geschmack von F.’s einstigen kreativen Verrücktheiten fürs Leben, fürs Theater aufscheint. Aber - kann ich das? Könnte ich ihn, den Bühnenfleißigen, auch nur im Geringsten ersetzen? Es ergibt sich an diesem Nachmittag etwas ganz Anderes aus den verschiedenen, sich mit der Zeit aneinander reihenden Situationen unserer Umfrage. Plötzliches, eigenes Erschrecken ist mir in Erinnerung, und das Erkennen unseres so ungleichen Gespanns wie in einem Spiegel. Von den befragten Fahrgästen wird F. misstrauisch beäugt. Er ist einfach für sie nicht der, der er immer für mich war. Natürlich nicht. Im Zug nuschelte er und lachte, weil nur er verstand, was er nuschelte, und brachte - einfach noch infolge des Wende-und-DDR-Zusammenbruch-Tumors - keine ganzen Sätze fertig. F. erschien in den Augen der zu Befragenden trunken und vielleicht - man weiß ja nie - nicht nur solcher obskuren Umfragen fähig. Dieser Reaktionen der Fahrgäste entsinne ich mich. Sie lachten nicht mit uns. Und ich wünsche mir im Nachhinein, dass vielleicht eine von Feiningers Lokomotiven vor unseren damaligen Express gespannt gewesen wäre, oder, wenn’s nicht anders geht, wenigstens eine Turner’sche, so dass wir beide als Zeugen solch eines Wunders einfach nur still gesessen hätten.

Als ich vor Monaten begann, Hrabal zu lesen, wusste ich nicht, dass ich so vielen Trostes bedürfen würde, wie ich ihn durch dessen Texte erfahre. Indes, lassen Sie mich hier ein wenig überheblich und völlig unangemessen fortfahren: Von uns vieren, Feininger, Turner, ich und ihm, Hrabal, war der Letztgenannte der Schienengläubigste schlechthin. Punktum, Gloria. Was für ein Feierer und Huldiger des Lebens, jener Hrabal, des Lebens, das doch eigentlich wie eine Dampflokomotive daher kommt!

Hrabal studierte Jura, als im deutschen Protektorat alle Hochschulen geschlossen wurden. Da ging er zur Bahn. Und wollte bei der gar nicht mehr aufhören als ausgebildeter Fahrdienstleiter, auch nicht als Tschechien von der Roten Armee befreit wurde und er sein Studium hätte zu Ende führen können. Schließlich beendete er es doch. Er blieb aber weder Fahrdienstleiter noch arbeitete er als Doktor der Rechte. Nach vielen Umwegen, von denen ein besonders großer, erzwungener, durch den Einmarsch der Sowjets 1968 verursacht war, wurde er einer der wichtigsten Erzähler Europas. Und mindestens zweimal hinterließ er große Texte, in denen sein Leben als Eisenbahner eine große Rolle spielt. Neben der Erzählung »Reise nach Sondervorschrift, Zuglauf überwacht« ist dies vor allem der Roman »Vita nuova«. Doch - ich bitte Sie, lesen Sie selbst. Vielleicht sogar in einem Zug.

Warum aber kam der schriftstellernde Eisenbahner gar nicht vor in unserer Umfrage unter den Passagieren während der Reise Halle an der Saale - Wernigerode? Weil wir beiden Toren damals die Passagiere lediglich nach den wichtigsten Autoren deutscher Zunge nach dem Zweiten Weltkrieg fragten. Um unseren überraschten und sich kaum wehrenden Befragten auf die Sprünge zu helfen (einige wussten gar keinen Autor zu nennen), schlug ich beispielsweise Uwe Johnson vor, Christa Wolf, Bert Brecht, Arno Schmidt oder auch Heiner Müller. Doch als Folge der Wende und des Beginns eines neu-alten Landes, in dem es für F., den Regisseur, vielleicht keinen Platz mehr geben würde, infolge der vielleicht aus politischen - oder sagen wir: gesellschaftlichen - Vorgängen entstandenen Krebskrankheit, welche noch Jahre danach ihre langsamen und genuschelten Worte durch F. hindurch hervorbrachte, reagierten einige Fahrgäste irritiert. So entstand aus unserer Eisenbahnumfrage nach dem besten deutschen Autor lediglich eine Legende, eine Geschichte, die F. und ich, oder aber er allein gern erzählten. Und im Erzählen geht ja so eine kleine Geschichte oft gut aus.

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