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Hellwach und unermüdlich
Dem Historiker Walter Schmidt zum 95.
Der 8. November 1943 veränderte das Leben des am 11. Mai 1930 geborenen, in und bei Breslau aufgewachsenen Walter Schmidt von Grund auf: An diesem Tag wurde sein kommunistischer Vater Josef Schmidt durch die nazistische Terrorjustiz hingerichtet. Anders als die Mehrzahl seiner deutschen Altersgenossen bewahrte spätestens dies den künftigen Historiker davor, in irgendeiner Weise der faschistischen Ideologie zum Opfer zu fallen.
Die antifaschistische Familie hegte auch nach der schmerzlich empfundenen, von gefahrvollen Momenten begleiteten Austreibung aus Schlesien nach der Befreiung vom Faschismus 1945 keinerlei Revanchegedanken. Im Gegenteil: Die Solidarität der entstehenden deutschen Arbeiterbewegung mit dem um seine Freiheit kämpfenden polnischen Volk wurde eines der Forschungsthemen des überaus produktiven Historikers.
Der Lebensweg des Walter Schmidt führte vom Besuch der Oberschule im vogtländischen Greiz über die Universität Jena, wo Karl Griewank zum wichtigsten Lehrer wurde, nach Berlin. Am Institut (später: der Akademie) für Gesellschaftswissenschaften wurde Walter Schmidt mit einer Arbeit über Wilhelm Wolff, einen der engsten Freunde von Marx und Engels, 1961 promoviert. Noch vor der Habilitation wurde er 1965 am gleichen Institut zum Professor ernannt sowie Vizepräsident der Historiker-Gesellschaft der DDR. Von 1984 bis 1990 bekleidete er das Direktorenamt am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR.
Der Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand bewahrte ihn davor – ungleich vielen seiner Schüler und Mitarbeiter –, in der Bundesrepublik um kurzfristige Arbeitsaufträge nachzusuchen – die bewilligt werden konnten oder auch nicht, jedoch relativ selten die bisherigen Arbeitsthemen fortführten; viele der erarbeiteten Resultate gingen so für immer verloren.
Nicht so für Walter Schmidt: Er konnte seine Forschung fast ungebrochen fortsetzen, wenngleich mit materiellen Einschränkungen. Das »Herzensthema« war die 1848er-Revolution. Ausgehend von der proletarischen Komponente in ihr, erweiterte Schmidt das Spektrum seines Wirkens. Immer mehr wandte er sich der Politik und Ideologie des Bürgertums dieser Zeit zu, fundierte den ideologiekritischen Ansatz durch sozialgeschichtliche Untersuchungen, entdeckte die Burschenschafter der Zeit als wichtige Antriebskräfte revolutionärer Kämpfe und spürte der europäischen Wirkungsgeschichte der Revolution nach.
Neben zahllosen eigenen Beiträgen wurde er zum Initiator wichtiger, zum Teil internationaler Forschungsprojekte, unter denen die inzwischen siebenbändige Buchreihe über »Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution von 1848/49« hervorzuheben ist. Nach 1990 war er maßgeblich an der Rettung des Projektes einer Marx-Engels-Gesamtausgabe beteiligt, die schließlich beim Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam ihre Heimstatt fand.
Seit 1981 Korrespondierendes und seit 1985 Ordentliches Mitglied der DDR-Akademie der Wissenschaften, engagierte sich Walter Schmidt nach der administrativ verfügten Auflösung der Akademie in deren Nachfolger-Gesellschaft, der 1993 gegründeten Leibniz-Sozietät. Dort initiierte und leitete er den Arbeitskreis »Vormärz und 1848er-Revolutionsforschung«. Weniger bekannt ist, dass er sich bereits vor 1989 tatkräftig, auch publizistisch, um die Aufarbeitung der deutsch-jüdischen Geschichte verdient gemacht hat, dabei Versäumnisse auch von DDR-Historikern kritisierte und zu beheben suchte.
Bis ins hohe Alter ist Walter Schmidt hellwach und unermüdlich tätig. Erst in den letzten Jahren muss der hochgewachsene, lebhafte Mann, den manchen den schlesischen Recken nennen, etwas kürzertreten. Noch immer aber weigert er sich, ganz der Vita activa zu entsagen und sich mit der Vita contemplativa zu bescheiden; noch immer äußert er sich auch schriftlich zu Fragen, die ihm am Herzen liegen. Seine Telefonanrufe inspirieren die Jüngeren.
Wünschen wir Walter Schmidt, dass er seinen 95. Geburtstag, den er im Kreise der Familie und mit Freunden begehen wird, zum Auftakt der Vorbereitung auf das ganz große Jubiläum in fünf Jahren nutzt – das wir dann mit ihm gemeinsam feiern möchten!
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