»Es kann sein, dass wir uns nie wieder sehen«

Hilferufe türkischer Richter an ihre europäischen Kollegen / SOS und Warnung vor »Säuberungen« gab es schon vor vier Monaten

  • Ralf Streck, San Sebastián
  • Lesedauer: 3 Min.
Die europäische Internationale Richtervereinigung fordert Schutz für ihre türkischen Kollegen. Diese warnten schon vor vier Monaten vor drohenden großen »Säuberungen«.

Bei Richtern und Staatsanwälten in ganz Europa sind in den vergangenen Tagen Informationen von türkischen Kollegen eingegangen, die ohnmächtig ihrer Verhaftung entgegensahen. Die Rede war von von der »größten Säuberungsaktion von Dissidenten durch die Regierung«. In der Nachricht eines türkischen Richters, die er auch an spanische Kollegen schickte, hieß es: »Es kann sein, dass wir uns nie wieder sehen.« Da hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan nach dem gescheiterten Putschversuch mit den »Säuberungen« begonnen. Einen Grund für eine Verhaftung sah er nicht, »denn ich habe nur meine Arbeit getan und die Regierung für Vorgänge kritisiert, die ihr ja schon kennt«.

Das dürfte nicht nur ihm zum Verhängnis geworden sein. »Es ist deprimierend, darauf zu warten, bis die Polizei an der Tür steht«, hieß es in der letzten Nachricht eines Richters an seine europäischen Kollegen. Kurz darauf wurde auch er festgesetzt, bestätigte seine Frau gegenüber einer französischen Kollegin. »Er ist kein Mitglied irgendeiner Gruppe und ich bin sehr stolz auf ihn«, schreibt sie. »Ich hoffe auf eure Hilfe.«

Hilferufe hat auch die Richtervereinigung in Österreich aus der Türkei erhalten. Von »verzweifelten Mails« berichtete der Vizepräsident der Österreichischen Richtervereinigung, Gerhard Reissner. Bisweilen werde auch die Verhaftung der Lebenspartner erwartet. Der Vorwurf laute, sie seien »Mitglieder einer terroristischen Vereinigung«. Die Art des Vorgehens lege »den Verdacht nahe, dass man hier eine Gelegenheit nutzt, um wieder einige Richter loszuwerden, mit denen man nicht ganz einverstanden ist, was ihre Rechtsprechung betrifft«, meinte er.

Angesichts der Vorgänge in der Türkei, hat die europäische internationale Richtervereinigung »Magistrats Européens pour la Démocratie et les Libertés« davon gesprochen, dass ein »zweiter Staatsstreich in der Türkei« ablaufe. Präsident Erdoğan nutze den »gescheiterten Militärputsch, um mit falschen Anschuldigungen Jagd auf Richter und Staatsanwälte zu machen«. In einem Aufruf zur Unterschrift für ihre Kollegen, erklärt Medel, Mehrere Tausend Richter und Staatsanwälte sollen zu den Putschisten gehören. Dabei hätten die Listen »wundersam« schon zwölf Stunden nach dem Putsch vorgelegen. »Doch ihr einziges ›Verbrechen‹ ist, dass sie sich für eine unabhängige Justiz und einen Rechtsstaat eingesetzt haben.« Wie die Betroffenen geht man auch davon aus, dass ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit genauso in Gefahr sind, wie der Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Justiz.

Der spanische Sprecher der »Progressiven Staatsanwälte« spricht von einem »brutalen Angriff«. Álvaro García Ortiz kündigte an, dass man sich gemeinsam mit Medel an den Europarat wenden werde, um Schutz für die Kollegen zu finden. »Es gibt keinen Unterschied zwischen den türkischen und spanischen Richtern und Staatsanwälten«, sagte der Sprecher der Staatsanwälte.

Die türkischen Kollegen hätten schon im März ein SOS an die europäischen Kollegen abgesetzt, erinnert man sich in Spanien nun. »Wir möchten unterstreichen, dass dies unsere letzte Mitteilung an eine freie Welt sein kann«, wird ein Brief beendet, in dem die türkischen Kollegen um Hilfe baten. Es sei offensichtlich, dass »die Basis für eine große Säuberung« gelegt werde, warnten sie schon vor vier Monaten. Sie riefen die »internationale Gemeinschaft« auf, zu verhindern, dass das »letzte Hindernis« auf diesem Weg beseitigt werden kann.

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