Gedenken an NS-Verbrechen: Das Kreuz von Kalavryta

In dem Städtchen auf der Halbinsel Peloponnes ist die Erinnerung an ein Massaker der deutschen Wehrmacht präsent

  • Nicole Quint
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Frauen zogen ihre ermordeten Männer zum Friedhof, im Beisein ihrer überlebenden Kinder. Daran erinnern diese Skulpturen in Kalavryta.
Die Frauen zogen ihre ermordeten Männer zum Friedhof, im Beisein ihrer überlebenden Kinder. Daran erinnern diese Skulpturen in Kalavryta.

Von Diakofto aus erreicht man Kalavryta mit der Zahnradbahn. 20 Kilometer klettern die Waggons die Vouraikos-Schlucht im Norden der Halbinsel Peloponnes hoch. Bäume balancieren auf Felsvorsprüngen, Wasser fällt in die Tiefe, Gestein schichtet und formiert sich zu einem Canyon. Sonnenstrahlen prallen am dichten Blätterwerk ab, der Fluss Vouraikos plätschert an manchen Stellen waldmeistergrün dahin.

Doch die Idylle hier ist trügerisch. Seinen Frieden hat dieser Ort vor 82 Jahren verloren, als Soldaten der deutschen Wehrmacht mit dieser Zahnradbahn nach Kalavryta hinauffuhren. Heute transportiert sie Touristen. Das 2000-Einwohner-Städtchen ist ein beliebtes Urlaubsziel für Wanderer und Wintersportler. Ferienhäuser, Restaurants, Cafés und Souvenirläden prägen den Ortskern. Mit hellgetünchten Fassaden und gusseisernen Straßenlaternen wirkt Kalavryta wie aus dem Bausatz für Modelleisenbahnorte.

Nur die ramponierte Turmuhr der Kirche passt nicht in das Bild des schicken Städtchens. Das schmutziggraue Ziffernblatt neigt sich so weit nach vorn, als könnte es im nächsten Moment herabstürzen. Seine Zeiger stehen still – seit 82 Jahren. Mehr als 43 Millionen Minuten blieben ungezählt, seit die Kirchturmuhr am 13. Dezember 1943 um 14.34 Uhr stehenblieb. Genau in jenem Moment hallten die letzten Schüsse durch die Stadt. Sie markierten das Ende einer fünf Stunden dauernden Massenerschießung – ein Vergeltungsakt der deutschen Armee, der schon Tage zuvor in anderen Orten begonnen hatte.

696 Bewohner Kalavrytas mussten sterben, um den Tod von 81 deutschen Soldaten eines Jägerregiments zu rächen. Sie waren von Mitgliedern der griechischen Volksbefreiungsarmee Elas als Geiseln genommen worden. Die Partisanen wollten dadurch die Freilassung von rund 3900 griechischen Gefangenen der Wehrmacht erreichen. Doch die Deutschen ließen sich nicht auf Verhandlungen ein, sondern griffen Elas-Einheiten an. Daraufhin wurden die deutschen Soldaten im Chaos erschossen. Die Wehrmacht nahm blutige Rache: Ihre Soldaten brannten 28 Dörfer nieder und ermordeten mehr als 1300 Griechen.

Kaum eine der Witwen von Kalavryta hat später wieder geheiratet, und keine hat je Hilfe oder materielle Wiedergutmachung erhalten.

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So wenig wie die Zeit auf der Turmuhr vergehen auch die Erinnerungen an das alte Kalavryta und seine Menschen: den 15-Jährigen, der die Soldaten des Exekutionskommandos anflehte, ihn am Leben zu lassen; die Frauen Kalavrytas, die für ihre toten Väter, Brüder, Ehemänner und Söhne bei gefrorenem Boden Gräber aushoben. Und an den Wehrmachtskommandanten, der den Kalavrytern sein Soldatenehrenwort gegeben und versprochen hatte, ihnen nichts anzutun.

Sichtbar wird die Erinnerung an die Toten durch die stillstehende Kirchturmuhr – und durch ein fünf Meter hohes weißes Betonkreuz auf dem Kapi-Hügel über der Stadt. Von fast jedem Punkt in Kalavryta aus ist es zu sehen. Jeden Tag schauen Einwohner und Feriengäste von den Fenstern ihrer Wohnungen und Hotelzimmer darauf, wenn sie auf dem Weg zum Bäcker sind, im Restaurant sitzen oder ins Nachbardorf fahren. Und nachts, wenn die letzten Lichterketten über den Caféterrassen verlöschen, wird das Kreuz von Scheinwerfern angestrahlt.

Alle männlichen Einwohner Kalavrytas, die nach Ansicht der Deutschen im wehrfähigen Alter, also älter als 15 Jahre waren, hatten die Wehrmachtssoldaten auf den Hügel gebracht. Unter ihnen waren Großväter, Teenager, Lehrer mit strengen Seitenscheiteln, Priester und viele Mönche. Die Fotos jener Jungen und Männer, von denen es welche gab, sind im Holocaust-Museum von Kalavryta zu sehen.

Frauen, Kinder und Greise pferchten die Deutschen damals in der Grundschule des Ortes ein. Mit ihnen als Geiseln hielt man die Männer auf dem Kapi-Hügel in Schach. Das Schreien und Weinen ihrer eingesperrten Familien drang bis zu ihnen hoch. Sie mussten mit ansehen, wie die Deutschen begannen, Kalavryta zu plündern und alle Gebäude in Brand zu setzen, wie Häuser einstürzten, wie sich Wolken aus Rauch und Staub über die Stadt legten und wie um die Mittagszeit grüne und rote Signallichter aufstiegen. Sie waren das Zeichen für die Bewacher der griechischen Männer, mit der Mordaktion zu beginnen.

In einer Akte des Auswärtigen Amtes der alten Bundesrepublik von 1953 werden Massaker an der griechischen Zivilbevölkerung als »tragische Kettenfolgen eines Partisanenkrieges« bezeichnet. Folglich dürfe eine »eventuelle deutsche Hilfe nicht die Form einer Wiedergutmachung haben, sondern wäre die Folge reinen Mitgefühls des wirtschaftlich Stärkeren an seinen ehemaligen Rivalen«.

Drei Generationen von Männern wurden an diesem Tag ausgelöscht. Das älteste Opfer war über 80, das jüngste zwölf Jahre alt. Der Junge musste wahrscheinlich sterben, weil er ausnahmsweise die langen Hosen seines älteren Bruders angezogen hatte und die Deutschen ihm sein wahres Alter nicht glaubten. Seine jüngeren Geschwister flüchteten mit der Mutter aus dem brennenden Kalavryta auf die umliegenden Felder. Auch sie sahen die Signalleuchten und hörten die Maschinengewehrsalven. Wie die anderen Kinder liefen sie später mit den Frauen den steilen Weg zum Kapi-Hügel hinauf. Sie wateten durch Blutlachen, riefen die Namen ihrer Angehörigen und halfen der Mutter, so gut sie konnten, die Leichen von Vater, Bruder, Großvater und Onkel über den gefrorenen Boden zum Dorf hinunter zu ziehen.

Am 13. Dezember 1943 endete ihre Kindheit. Ohne Obdach, ohne Nahrung, ohne Geld, ohne Familien – mit Müttern, die wie sie traumatisiert waren. Die Frauen mussten weiterleben, weil sie ihre Kinder zu versorgen hatten. Die meisten waren im Jahr des Massakers an ihren Männern jünger als 30 Jahre. Kaum eine von ihnen hat später wieder geheiratet, und keine hat je Hilfe oder materielle Wiedergutmachung erhalten, weder vom griechischen Staat noch von der Bundesrepublik, obwohl das oberste Gericht Griechenlands, der Areopag, Deutschland im Jahr 2000 zur Zahlung von Kriegsentschädigung in Höhe von 55 Millionen D-Mark verurteilte.

Die Bundesrepublik erklärte das Urteil für rechtsungültig. Klagen von Angehörigen der Opfer auf Wiedergutmachung wurden abgelehnt, da Deutschland als souveräner Staat Immunität genießt – und sich auf an Griechenland gezahlte Wiederaufbauhilfen berief. Das Gericht eines Staates – in diesem Fall Griechenland – kann demnach einen anderen Staat nicht verklagen. Auch der Europäische Gerichtshof wies Ansprüche auf Schadensersatz wegen der Massenexekution in Kalavryta im Februar 2007 ab.

In einer Akte des Auswärtigen Amtes der alten Bundesrepublik von 1953 heißt es: »Die Errichtung eines Denkmals wäre schädlich für die Beziehung zwischen beiden Ländern.« Die Massaker an der Zivilbevölkerung werden darin als »tragische Kettenfolgen eines Partisanenkrieges« bezeichnet. Folglich dürfe eine »eventuelle deutsche Hilfe nicht die Form einer Wiedergutmachung haben, sondern wäre die Folge reinen Mitgefühls des wirtschaftlich Stärkeren an seinen ehemaligen Rivalen«.

Wie viel ließ man sich dieses Mitgefühl kosten? Bundeskanzler Konrad Adenauer überreichte der Kalavryta-Hilfe 1954 einen Scheck in Höhe von schon damals lächerlichen 50 000 D-Mark. Die Bremische Bürgerschaft spendete 10 000 Mark zur Anschaffung neuer Webstühle, und mit Spenden deutscher Unternehmen konnte ein Skizentrum mit Schlepplift errichtet werden. Im Jahr 1960 wurden 115 Millionen Mark für griechische NS-Opfer als Wiedergutmachungsleistung gezahlt.

Erst 50 Jahre nach Kriegsende, im Jahr 2000, besuchte mit Johannes Rau erstmals ein deutscher Bundespräsident Kalavryta. Viele hofften auf eine Entschuldigung. Doch Rau sprach nur von »Trauer und Scham«, die er empfinde, nicht aber von Verantwortung. Auch an dieses Versagen Nachkriegsdeutschlands erinnert das Kreuz auf dem Kapi-Hügel.

14 Jahre später bat Raus Amtsnachfolger Joachim Gauck bei einem Besuch in Griechenland als erster Repräsentant Deutschlands die Griechen um Verzeihung für die zahlreichen Verbrechen von Wehrmacht und SS. Gauck sagte auch: »Ich schäme mich, dass das demokratische Deutschland, selbst, als es Schritt für Schritt die Vergangenheit aufarbeitete, so wenig über deutsche Schuld gegenüber den Griechen wusste und lernte. (...) Es sind die nicht gesagten Sätze und die nicht vorhandenen Kenntnisse, die eine zweite Schuld begründen, da sie die Opfer sogar noch aus der Erinnerung verbannen.«

Eingeständnisse von Scham und Reue waren 2024 auch vom amtierenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier beim Staatsbesuch in Griechenland zu hören. Die Forderungen Griechenlands nach Reparationen im Umfang von 300 Milliarden Euro weist Deutschland bis heute zurück.

Die Mörder von Kalavryta wurden derweil nie strafrechtlich belangt. Die Befehlshaber gelten seit 1945 als vermisst. Die Schützen des Exekutionskommandos konnten nicht ermittelt werden. Die Verbitterung darüber ist zu spüren, wenn sich die Einwohner Kalavrytas alljährlich am 13. Dezember unterhalb des Kreuzes versammeln und um Gerechtigkeit bitten. Sie halten dann Transparente in die Höhe, auf denen »Nie wieder Krieg, nie wieder Nazis!« steht und lassen Salutschüsse ins Tal knallen. Der Bürgermeister verliest die Namen der Ermordeten in alphabetischer Reihenfolge. 696 Namen – 696 Geschichten von Trauer, Schmerz und Verlust. In einer Krypta, die in den Kapi-Hügel hineingebaut wurde, brennt für jeden Toten ein ewiges Licht. In Augenblicken, in denen die Vögel nicht singen, kein Wind weht und kein Auto auf den Parkplatz der Gedenkstätte fährt, hört man das Knistern der Lampen.

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