Phantom der Wälder

Asiatische Wildhunde sind aus weiten Teilen des Kontinents verschwunden. In Indiens Schutzgebieten haben sie eine Zukunft - dem Tiger sei Dank

  • Kai Althoetmar
  • Lesedauer: 6 Min.

Wie ausgelassene Kinder rennen sie aus dem Wald an das offene Seeufer. Zehn, elf, ein Dutzend, in dem Gewusel sind sie kaum zu zählen. Die rotbraunen Tiere, die wie halb Schakal, halb Wolf daherkommen, huschen auf dem Grasplatz zwischen See und Waldrand durcheinander. Manche trinken am Seeufer, andere wirken unschlüssig oder schauen herüber, als gelte es, Wache zu halten. Das Ausflugsschiff mit den vielen Menschen an Bord scheint sie aber nicht wirklich zu stören. Sie sind es gewohnt.

Ausflugsboote gondeln den Periyar-See im Hinterland des südindischen Gliedstaates Kerala an schönen Tagen im Viertelstundentakt auf und ab - ein beliebtes Freizeitvergnügen für indische Familien und Honeymooner. Zwei Stunden Naturromantik, keine Anstrengung und vermeintlich kein Risiko, aber mit Aussicht auf eine große Wildlife-Bühne. Der Schauplatz: das »Periyar Tiger Reserve«, ein Tigerschutzreservat in den Kardamom-Bergen, einem Gebirgszug der Western Ghats.

Die Touristen zücken Ferngläser und Kameras und rennen nach steuerbord. Unser Dieselkahn neigt sich kaum. Die wenigsten Ausflügler dürften wissen, was für eine zoologische Rarität sich ihnen da wie auf dem Silbertablett präsentiert: Cuon alpinus, der Asiatische Wildhund, auch Rothund genannt. Auch nur einen einzigen Asiatischen Wildhund in freier Wildbahn zu sehen, ist statistisch gesehen unwahrscheinlicher als die Sichtung eines Tigers im Dschungel: Der Rothund-Forscher Matt Hayward von der Bangor University in Wales (Großbritannien) schätzt die Zahl von Rothunden im fortpflanzungsfähigen Alter in ganz Asien auf nicht einmal 2500. »Wenige Großraubtiere sind so bedroht wie die Rothunde«, urteilt er.

Vor allem in den Schutzgebieten Süd- und Zentralindiens kommen Rothunde noch vor, kleinere Populationen auch im Nordosten Indiens. In Zentralasien, so vermuten Fachleute, dürfte die Art abgesehen vom Altai-Gebirge im Nordwesten Chinas ausgestorben sein. In Burma, Thailand, Kambodscha, Laos, Vietnam und Festland-Malaysia wie auch auf den Inseln Java und Sumatra kommen in Schutzgebieten isolierte Populationen vor.

Die Rudel aus fünf bis zwölf, selten auch bis zu dreißig Tieren im fortpflanzungsfähigen Alter entstehen aus Familiengruppen und leben meist im Wald, bevorzugt in tropischen und subtropischen Trockenwäldern. Doch auch Wald-Grasland-Mosaike besiedelt der Rothund. In seinen raren nördlichen Verbreitungsgebieten kommt er auch in alpinen Steppen bis in 3000 Meter Höhe vor. Einzig offene Landschaften in den Niederungen meidet er. Die Streifgebiete eines Rudels in Indien umfassen 40 bis gut 80 Quadratkilometer.

Den Tieren drohen eine ganze Reihe von Gefahren. Der Zoologe Bhaskar Acharya hat über die Wildhunde im zentralindischen Pench-Tigerreservat promoviert. »Das Rudel, dem ich gefolgt bin«, erzählt der 42-jährige Inder, »wurde fast ausgerottet, weil es vergiftetes Fleisch fraß, das für einen Leoparden bestimmt war.« Raubtiere, die Vieh reißen, mit Rattengift zu liquidieren, ist in Asien und Afrika weit verbreitet. Oft fressen die Wildhunde auch, was für Wölfe bestimmt ist.

Der indische Biologe Asir Jawahar Thomas Johnsingh von der Nature Conservation Foundation in Mysore hingegen schätzt Krankheiten wie Räude und Tollwut, die von Dorfhunden und Schakalen übertragen werden, als größte Gefahr für die Wildhunde ein. »Rothunde verschwinden plötzlich aus einer Gegend, und dann dauert es Jahre, bis sie wieder zurückkehren«, berichtet er. Das könne mit solchen Krankheiten zu tun haben.

Der 70-Jährige hat in den 1970er Jahren Rothunde im Bandipur-Nationalpark in den Western Ghats erforscht. Eine bahnbrechende Arbeit, die erste Feldstudie eines indischen Forschers zu freilebenden Tieren überhaupt. Der Biologe beobachtete damals oft, wie die eher schmächtigen Wildhunde im Rudel übermächtige Beutetiere von mehr als 200 Kilogramm Gewicht erlegten. Rothunde, deren Fell zwischen rotbraun und sandfarben-orange changiert, erreichen allenfalls 50 Zentimeter Schulterhöhe.

Ökologisch haben sie eine wichtige Funktion: Die Hunde verhindern eine Überweidung der Wälder durch Pflanzenfresser. Johnsingh hat 1992 im Bandipur-Nationalpark ermittelt, dass 80 Prozent der gerissenen Pflanzenfresser von Rothunden erlegt worden waren. Für den Menschen stellen die Wildhunde allenfalls eine Gefahr dar, wenn sie mit Tollwut infiziert sind. Johnsingh hat sich Rothunden bis auf wenige Meter nähern können, um einen Riss zu untersuchen. Die Hunde, so berichtet er, seien nur kurz zurückgewichen und hätten dann weiter gefressen. »Trotzdem hat kein anderes Wildtier Indiens solch unverdiente Verfolgung durchleiden müssen wie der Rothund«, kritisiert er.

Die Fachleute sehen die Zukunft der Wildhunde in Indien aber keineswegs schwarz. Indien unternehme viel für ihren Schutz, sagt etwa der Australier Hayward. Das Land überprüfe diese Anstrengungen auch. »Ich denke, die Zukunft für die großen Raubtiere Indiens ist glänzend.« Die Rothunde, sagt Hayward, profitierten vom Artenschutz für Tiger und Leopard, die für Indien »Arten im Brennpunkt« seien. Vor allem die Einrichtung der Tigerschutzgebiete, die mit dem »Project Tiger« 1973 begann, dürfte die Art auf dem Subkontinent vor dem Kollaps bewahrt haben. Tiger und Wildhunde gehen so eine Art Artenschutz-Symbiose ein. Denn wo es in Indien Rothunde gibt, sind zumeist auch Tiger und Leopard unterwegs.

Ein solcher »Hotspot«, wo Tiger, Leopard und Rothund gemeinsam vorkommen, ist Periyar. Ihre Koexistenz ist kein Problem. »Die drei haben sich über etliche tausend Jahre gemeinsam entwickelt«, sagt der Rothund-Forscher Acharya, sie gehen sich innerhalb eines Habitats räumlich und zeitlich aus dem Wege. Hayward hat diese Koexistenz genauer untersucht. Seine wichtigste Erkenntnis: Die Nahrungsspektren der großen asiatischen Prädatoren überlappen in hohem Maße. Sie seien damit alle drei von wenigen Beutetierarten abhängig, anders als etwa in Afrika, wo die Fleischfresser viel spezialisierter seien, erklärt er. Das asiatische Trio benötigten deshalb große Habitate mit genügend Beutetieren für alle, sagt Hayward. Umso wichtiger sei es, die Wilderei von Hirschen und Wildschweinen zu unterbinden, um zu verhindern, dass die Raubtiere sich am Vieh vergreifen.

Doch immer friedlich ist das Zusammenleben der drei Raubtiere nicht. Ab und zu fallen Wildhunde den Raubkatzen zum Opfer. Andererseits gelingt es den Rothunden oft, Leoparden von deren Beute zu vertreiben, und zuweilen sogar Tiger, wie Johnsingh und Acharya in dem Standardwerk »Mammals of South Asia« schreiben, einer Bestandsaufnahme der Säugetiere Südasiens. Johnsingh weiß gar von Fällen, in denen einzelne Rothunde einen Tiger in die Flucht geschlagen haben - wobei der Tiger dann aber offenbar ein Rudel im Anmarsch wähnte, wie der Forscher vermutet.

Für ihn ist der Nationalpark ein beispielhaftes Rothund-Habitat. Der Ökologe schätzt die Population rund um den Periyar-See auf etwa hundert Individuen - eine Bastion für den Rothund-Genpool in Südindien. 2013 beobachtete er dort 19 Wildhunde, die sich am Seeufer über eine Sambar-Hirschkuh hermachten. »Ein Wildschwein stand im Wasser und sah zu«, erinnert er sich. »Später wurde auch das Wildschwein gejagt, vielleicht spielerisch, dann rannte es in den Wald davon.«

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